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Xi Jinping: Chinas Staatschef profiliert sich als Visionär und Theorienschöpfer © Thierry Ehrmann/Flickr/cc

Xi Jinping: Staatslenker und Staatsdenker

Peter G. Achten /  Staats- und Parteichef Xi Jinping hat offiziell seine politische Theorie erläutert. Ein marxistischer Klassiker?

Vor etwas mehr als zwei Jahren kurz nach Amtsantritt träumte Parteichef Xi den «Chinesischen Traum» zur Verjüngung und Wiederauferstehung der Nation. Die Partei-Granden und «die Massen», also das gemeine Volk, applaudierten. Wenig später entwarf Xi, mittlerweile auch noch Staats- und Militärchef, die ökonomische Vision «Ein Gürtel, eine Strasse». Damit will er die jahrtausendealte Seidenstrassen zu Wasser und zu Lande wiederbeleben. Für diese Idee erhielt Xi Respekt und Applaus auch aus dem Ausland. Als schliesslich die Wachstumsraten des Brutto-Inlandprodukts von zweistelligen in einstellige Zahlen umschlugen, kreierte der flexible Theoretiker und Wortschöpfer Xi den Ausdruck «Das neue Normale». Und jetzt, kurz vor dem jährlichen parlamentarischen Versammlung in der Grossen Halle des Volkes in Peking, überrascht der beim Volk beliebte Xi die Öffentlichkeit mit dem neuen Entwurf seiner politische Theorie «Die vier Umfassenden».

Mao-Dsedong-Gedanken als Staatsdoktrin

Chinesische Parteichefs sehen sich in einer langen Reihe marxistischer Theoretiker. Obwohl derzeit «westliche Gedanken» in China politisch inkorrekt sind, stehen die Westler Karl Marx und Friedrich Engels hoch im Kurs. In dieser Tradition, angereichert durch Lenin und Stalin, sehen sich die chinesischen Reformer. Der Revolutionär und Staatengründer Mao Dsedong bereicherte die marxistische Theorie mit seinen utopisch-abgehobenen Gedanken. Mittlerweile sind die «Mao-Dsedong-Gedanken» zusammen mit den Schriften der revolutionären Westler des 19. Jahrhunderts zur abgesegneten Partei-Doktrin mutiert. Und der grosse Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping entwarf mit seiner Theorie der «Reform und Öffnung» den grossen wirtschaftlichen und sozialen Umbruch Chinas der letzten 35 Jahre.
Alle grossen chinesischen Führer seit Gründung der Volksrepublik 1949 setzten sich mit komplizierten, zuweilen auch reichlich abstrusen politischen Entwürfen ein ideologisches Denkmal. Maos «Rotes Büchlein» hat in China die politischen und sozialen Katastrophen begleitet und im Ausland Bewunderung bis Kopfschütteln ausgelöst. Der in China beliebte und im Ausland hochgeschätzte legendäre Premierminister Zhou Enlai hat ein Reformprogramm unter dem Titel «Vier Modernisierungen» geprägt, nämlich die Modernisierung von Industrie, Landwirtschaft, Verteidigung sowie von Technik und Wissenschaft. Die fünfte Modernisierung, Demokratie, forderte der ehemalige Rotgardist Wei Jingsheng 1978 an der Pekinger «Mauer der Demokratie». Dafür sass er wegen «konterrevolutionärer Aktivitäten» 14 Jahre im Gefängnis.

Parteichefs und ihre Theorien

Mit Rückgriff auf Reformer Deng haben sich in den 1980er-, 1990er-Jahren und danach alle Parteichefs mit eigenen Theorien, Gedanken und «Visionen» zu profilieren versucht. Mit mehr oder weniger Erfolg, mit Originalität oder seichtem ideologischem Raunen. Der 1989 bei den Arbeiter- und Studenten-Unruhen auf dem Tiananmenplatz in Peking in Ungnade gefallene Parteichef Zhao Zyiang entwarf 1987 «Ein Zentrum, zwei grundlegende Punkte», eine Theorie, die im damaligen Reformzeitpunkt das Problem kreativ auf den Punkt brachte. Mit «einem Zentrum» meinte Zhao, dass die wirtschaftliche Entwicklung die zentrale Regierungs-Aufgabe sei. Zhaos «zwei grundlegende Punkte» waren etwas vertrackter und ganz dem Zusammenhalt der allmächtigen Kommunistischen Partei zugedacht. Der erste Punkt bezog sich auf Dengs «Reform und Öffnung», der zweite Punkt auf die «Vier kardinalen Prinzipien», nämlich auf den Sozialistischen Weg, die demokratische Diktatur des Volkes, die führende Rolle der Partei und auf Marxismus-Leninismus-Mao-Dsedong-Denken.
Auch Zhaos Nachfolger, Parteichef Jiang Zemin (1989–2012), prägte eine Doktrin mit Zahlen: «Die Lehre von den drei Vertretungen». Dem Laobaixing, dem Durchschnittschinesen, waren solche Theorien ziemlich egal. Doch die Parteimitglieder machten sie sich zu eigen. Im Falle der «Drei Vertretungen» hiess das auf partei-chinesisch: die KP repräsentiert bei der Weiterentwicklung von Gesellschaft und Wirtschaft «die fortgeschrittenen Produktionskräfte» und die «fortgeschrittene chinesische Kultur». Die dritte Vertretung war die entscheidende: Die Partei vertritt die «fundamentalen Interessen der überwiegenden Mehrheit des chinesischen Volkes».
Selbst Staats- und Parteichef Hu Jintao, der etwas blasse Nachfolger Jiangs, entwickelte während seiner Herrschaft (2002–2012) eine eigene Theorie. Er sprach von der «Lehre der wissenschaftlichen Entwicklungssicht» und der «Harmonisierung der Gesellschaft». Auch Hu stützte sich im grossen Ganzen in der Praxis auf Reform-Übervater Deng Xiaoping und ideologisch auf Mao, Marx, Engels, Lenin und Stalin.

«Vier umfassende Grundsätze»

Mit seinen «Vier umfassenden Grundsätzen» oder kurz den «Vier Umfassenden» setzt Parteichef Xi Jinping neue Massstäbe. Ein Frontseiten-Kommentar der Parteizeitung «Renmin Ribao» (Volkszeitung) gibt jedenfalls schon einmal den Ton über Xis theoretisches Meisterwerk an: «Das grosse Gewicht und die grosse Bedeutung sind klar ersichtlich.» Die «umfassende politische Theorie» wird von «Renmin Ribao» als «Durchbruch» und als «historisch» bezeichnet. Der «normale Bürger», so der Kommentator, «kann leicht den Zusammenhang zwischen dieser politischen Theorie und der Realität des Landes verstehen». Vor allem aber ist die Theorie «kein leerer Slogan geäussert von Politikern mit einem politischen Ziel».
Wie immer man Xis Wurf auch interpretieren mag, eines ist sicher: Alle Parteimitglieder von der kleinsten «Fliege» bis zum grössten «Tiger» müssen jetzt allumfassend sozusagen die vier Grundsätze studieren, internalisieren und in die Praxis umsetzen. Das wird nicht ganz einfach sein, denn die strategischen Richtlinien für die Regierungstätigkeit bis zum Rücktritt Xis im Jahre 2022 erschliessen sich nicht von selbst.

  • Der erste Grundsatz: Aufbau einer «moderat wohlhabenden Gesellschaft», ein altes konfuzianisches Konzept, das von Deng Xiaoping am Anfang des Reformprozesses 1978 bereits fürs Jahr 2050 als Ziel gesetzt worden war.
  • Der zweite Grundsatz, eine «umfassende, tiefe Reform», ist eher vage, wenn auch durchaus zielgerichtet auf die aktuelle Lage formuliert.
  • Der dritte Grundsatz wiederholt eine prioritäre Forderung des Parteichefs, nämlich die «Nation umfassend nach dem Recht regieren».
  • Der vierte Grundsatz schliesst daran an – man denke nur an die grassierenden Korruption – und fordert eine «allumfassende, genaue und strenge Führung der Partei».

In der chinesischen Realität sind Xi Jinpings «Vier Umfassende» praktische Handlungsanweisungen an die Nation, an die Regierenden so gut wie an das Volk. Ob Xi allerdings einst als grosser Klassiker und marxistischer Philosoph in den Geschichtsbüchern Eingang finden wird, steht auf einem ganz andern Blatt. Bereits jetzt steht jedoch fest, dass Staats- und Parteichef Xi Jinping seine Vorgänger wohl übertroffen hat und in einem Zug mit Deng Xiaoping genannt wird. Beim Volk ist Xi beliebt, im Ausland respektiert oder gefürchtet. Die Abgeordneten des Nationalen Volkskongresses (Parlament) und der Konsultativ-Konferenz – in China kurz als die «Zwei Sessionen» bekannt – werden sich noch vor den Debatten, so viel ist gewiss, allumfassend mit den «Vier Umfassenden» auseinandersetzen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Peter Achten arbeitet seit Jahrzehnten als Journalist in China.

Zum Infosperber-Dossier:

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Chinas Innenpolitik

Hohe Wachstumszahlen; riesige Devisenreserven; sozialer Konfliktstoff; Umweltzerstörung; Herrschaft einer Partei

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