Schuld

© Zsolnay

Wenn Banker Finanzkrisen als Erdbeben betrachten

Jürg Müller-Muralt /  Wer ist schuld, wenn täglich Kinder verhungern? Philosophen auf der Suche nach Verantwortung in einer verantwortungslosen Welt.

Die Ökonomin Anat Admati lehrt in Stanford Finanzwirtschaft und führt gelegentlich ein kleines Experiment durch: Sie legt Bankern Katastrophenbilder von Flugzeugabstürzen, Erdbeben oder Kriegen vor und fordert sie auf, die Finanzkrise einem der Bilder zuzuordnen. Die meisten von ihnen wählen gemäss Admati das Erdbebenbild. Ganz einfach deswegen, weil für sie die Finanzkrise ein Naturereignis darstellt, das unvorhersehbar, unabwendbar, zwar schrecklich in den Folgen, aber letztlich niemandem anzulasten ist (Interview mit Anat Admati im «Tages-Anzeiger» vom 18.02.2014).

Verantwortungsdiffusion

Das ist zwar ein ziemlich schiefes Bild der Wirklichkeit, aber ein weit verbreitetes. Denn die meisten Katastrophen dieser Welt, nicht nur die Finanzkrise, sind keine Naturkatastrophen. Sie sind von Menschen gemacht, sind Folgen von politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen Mechanismen und Entscheiden. Gleichzeitig hat die vielzitierte Vernetzung mit immer schwerer durchschaubaren Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten derart zugenommen, dass der Überblick weitgehend verloren geht und fast keiner mehr die Folgen seines Tuns vorhersehen und richtig einschätzen kann. Man spricht von Verantwortungsdiffusion. Paradoxerweise erschallt gleichzeitig immer häufiger der Ruf nach mehr Selbstverantwortung in allen Bereichen, etwa in Bildung, Gesundheit, selbst für das Altern und Sterben. Wie passen Verantwortungsdiffusion in weiten Teilen der Gesellschaft und der Ruf nach mehr individueller Verantwortung zusammen?

Philosophicum Lech: Ort der Reflexion

Dieses Thema hat sich das Philosophicum Lech, benannt nach dem Tagungsort Lech am Arlberg, im vergangenen Jahr vorgenommen. Die Referate der meist hochkarätigen Fachleute sind nun unter dem Titel «Schuld und Sühne. Nach dem Ende der Verantwortung» (Angaben siehe unten) in Buchform erschienen. Die interdisziplinäre Tagung wird seit 1997 durchgeführt und vom österreichischen Philosophen Konrad Paul Liessmann geleitet. In seinem Einleitungsreferat umreisst er die Dimension der Problematik: «Die Macht, die etwa dem internationalen Finanzkapital durch die Entwicklung des letzten Jahrzehnts objektiv zugewachsen war, entsprach in keiner Weise dem Mass der sozialen Verantwortung.» Oder: «Wer trägt die Schuld für jene bedrohlichen Entwicklungen, die wir euphemistisch als Klimawandel bezeichnen? Der einzelne Autofahrer? Die Industrie? Eine mobilitätsbesessene Gesellschaft?»

Der Reiz der einzelnen Beiträge liegt in der Grundsätzlichkeit, mit der das weit gefächerte Thema angegangen wird. Referentinnen und Referenten, bzw. Autoren und Autorinnen sind in erster Linie Fachphilosophen mit dem Spezialgebiet Ethik, aber auch Soziologen, Psychiater und Hirnforscher für die Bereiche Willensfreiheit, Schuld, Schuldfähigkeit und Verantwortung. Mit Gewinn wird das Buch nur lesen, wer nicht die schnelle Antwort sucht, sondern gerne einmal einen Schritt zurücktritt und die philosophische und historische Dimension des Problems zu erfassen sucht.

Mitgegangen – mitgehangen?

An ein schwieriges Thema herangewagt hat sich Barbara Bleisch mit ihrem Beitrag «Mitgegangen – mitgehangen? Individuelle Verantwortung für globales Unrecht». Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ethik-Institut der Universität Zürich sowie Redaktorin und Moderatorin der «Sternstunde Philosophie» des Schweizer Fernsehens SRF1. Barbara Bleisch greift ein moralphilosophisches Problem erster Güte auf. Man muss ja schliesslich nicht Drahtzieher eines Unrechts, nicht selbst Brandstifter sein, um moralisch nicht mehr lupenrein dazustehen. Auch Mitläufer stehen in der Verantwortung, auch wer wegsieht kann sich schuldig machen. «Die Frage ist bloss: Wer zählt zu den Mitläufern? Und wer ist lediglich unbescholtener Zaungast?» Wie kann man die einen von den andern unterscheiden? Wer hat sich beispielsweise ohne Verschulden, gewissermassen zufälligerweise, im Umfeld der Drahtzieher getummelt?

Gegen intellektuelle Unklarheiten

An einfachen Beispielen lassen sich die Fragen noch einigermassen plausibel beantworten; nehmen wir dagegen globale Tragödien in den Blick, verlieren wir die moralische Übersicht rasch. Man tappt ins Dunkel der Verantwortungsdiffusion. Und doch ist es zu einfach und zu billig, sich mit dem Hinweis auf die Grössenordnung der Probleme als Individuum im immer noch vergleichsweise behaglichen Weltnorden aus der Verantwortung zu stehlen. Denn es besteht «die Gefahr, dass – solange die moralphilosophische Frage nicht geklärt ist zwar alle die Notlage beklagen, aber unter Umständen niemand (effektiv) hilft. Die intellektuelle Unklarheit führt deshalb zu praktischer Apathie.»

Die Autorin versucht, diese intellektuelle Unklarheit mit verschiedenen Theoriemodellen zumindest besser zu verstehen und zu klären. Sie tut das anhand alltäglicher Fälle, aber auch am Beispiel des globalen Rohstoffhandels. Da die Chance gross ist, dass in jedem handelsüblichen Handy Rohstoffe aus einer Mine in Kongo stecken, fragt sie sich, wer für das Schicksal der Minenarbeiter in Kongo verantwortlich ist: «Allein der Herrscher vor Ort? Wir alle gemeinsam? Gar keiner? Oder Sie und ich?» Oder die Rohstofffirmen? Das Welthandelssystem? Kann Verantwortung an einer Kausalkette dingfest gemacht werden? Was gehört zu unserem «moralischen Aufmerksamkeitsbereich»? Reicht es, wenn wir uns auf gute Tipps von Konsumentenorganisationen verlassen und damit unser Gewissen beruhigen? Barbara Bleisch zeigt, wie komplex die Strukturen dieser globalen Phänomene sind, die beispielsweise das gigantische Unrecht in Kongo möglich machen, und dass es extrem schwierig ist, im Dschungel von Interessen, Instanzen und Zuständigkeiten die wahrhaft Verantwortlichen zu identifizieren.

Ohne dass die Autorin es erwähnt, fühlt man sich bei ihrer Argumentation immer wieder entfernt an das berühmte Diktum Theodor W. Adornos erinnert: «Es gibt kein richtiges Leben im falschen». Es ist zwar in einem anderen argumentativen Zusammenhang geäussert worden, wurde aber rasch zu einem geflügelten Wort der Achtundsechziger Bewegung. Adorno wollte damit ausdrücken, dass es in der Moderne immer schwieriger wird, sich irgendwo gemütlich und häuslich einzurichten. Ein dialektischer Grundwiderspruch zwischen individueller Lebensgestaltung und übergeordneter Verstrickung bleibt bestehen.

Politisches Engagement aus Verantwortung

Immerhin bietet Bleisch eine Teilantwort: «Der Nachweis, dass wir durch die Missachtung entsprechender Sorgfalt individuell zur ungerechten Weltordnung beitragen, bleibt schwer zu erbringen. Da wir als Bürger einer Demokratie die politischen Entscheidungen unserer Regierung beeinflussen können, und somit indirekt zur ungerechten Ordnung beitragen, wenn wir uns nicht gegen unfaire Abkommen starkmachen, kann am ehesten eine Verantwortung geltend gemacht werden, uns politisch zu engagieren und unsere Regierungen dazu zu bewegen, an faireren Übereinkünften zu arbeiten.»

Das ist zwar keine weltbewegende Einsicht, aber wenn sie sich mehr Menschen zu eigen machten, eine durchaus wirkungsvolle. Doch die Stärke des Buches liegt ohnehin nicht in unmittelbaren Handlungsanweisungen, sondern in der argumentativen Schärfe und in der klaren Benennung der Probleme rund um Fragen von Verantwortung und Verantwortungslosigkeit. Der provokative Untertitel («Nach dem Ende der Verantwortung») ist an sich schon Aufruf genug, sich diesen Fragen zu stellen, bevor die organisierte Verantwortungslosigkeit endgültig zum allseits und fraglos akzeptierten ethischen Standard wird. Und es wäre bereits ein Erkenntnisfortschritt, wenn Banker die potenziell verheerenden Konsequenzen ihres Tuns nicht mehr mit einem Erdbeben, also einer Naturkatastrophe, verwechselten.

Konrad Paul Liessmann: «Schuld und Sühne. Nach dem Ende der Verantwortung». Paul Zsolnay Verlag, Wien 2015. 303 Seiten. CHF 28.90

Weiterführende Informationen


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6 Meinungen

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 21.04.2015 um 12:08 Uhr
    Permalink

    Das Spiel von Anad Admati ist unter Kindergartenniveau, weil man im Kindergarten nicht ideologische Spiele macht, sondern solche, bei denen sich Phantasie und Denken unbefangen entfalten können. Mir ist nicht bekannt, dass die Fernsehmitarbeiterin Bleisch Qualifikationen auf dem Rohstoffsektor ausweist oder wenigstens das Leben und die Aktivitäten von Marc Rich genau erforscht und aufgearbeitet hätte. Ich würde mich als CH-Philosoph im Moment nicht über das Demokratiedefizit und die sozialen Probleme in Nordchina äussern, weil mir Basis-Kenntnisse fehlen, eher schon wäre ich über die Korporationen von Nidwalden und im Entlebuch kompetent, weswegen ich dank Detailkenntnissen auch das politische Verhalten dieser Leute erklären kann. Dass man sich über Dinge äussert, über die man nichts versteht und nicht eingearbeitet ist, war gerade die Basis der Kritik von Sokrates an den Sophisten. A propos China: tatsächlich könnten sich Europäer aus Schuldbewusstsein über die behauptete Ausbeutung Afrikas von dort ganz wegbewegen, auf ein ohnehin bloss riskantes Engagement verzichten, es den Chinesen überlassen, die in Sachen Afrika tatsächlich in vielen Ländern, zumal auf dem Rohstoffsektor, jetzt in die Offensive gehen, wobei sie dank ihrer kommunistischen Ideologie frei von Gewissensbissen sind. Die «Weltordnung» ist sowieso ungerecht, genau so wie zwanghafte SRG-Gebühren, von denen Asylbewerber hoffentlich dispensiert bleiben, eine Vergewaltigung Andersdenkender darstellen.

  • am 21.04.2015 um 13:26 Uhr
    Permalink

    @Pirmin: Wie immer nur persönliche Kritiken und kein konstruktiver Beitrag zum Thema!

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 21.04.2015 um 14:59 Uhr
    Permalink

    @Fritsche. In 250 z.T. abschweifenden Beiträgen, Infosperber-Rekord, diskutierten wir im Januar die von Ihnen leidenschaftlich verfochtene These, dass Ihr Liechtensteiner Landsmann Manfred Schlapp als Buchautor den Islam nur in einer «Schnellbleiche» studiert habe und also zu wenig wisse, worüber er schreibe. Ein «konstruktiver Beitrag» nun aber über das, was Anat Admati und Barbara Bleisch in Zusammenfassung v. Müller-Muralt ausgeführt haben, könnte aus einer kritischen Analyse der Leistungen, Verdienste und allfälligen Verfehlungen des bedeutendsten in der Schweiz wirkenden Rohstoffmagnaten, Marc Rich, gest. 2013, bestehen. Nach meiner Meinung ist die Rich-Biographie von D. Ammann ein Auftragswerk, nicht kritisch genug, wiewohl ziemlich informativ. Um also positiv, bzw. «konstruktiv», wie Sie sagen, weiterdiskutieren zu können, müssten wir uns a) mit Marc Rich beschäftigen, weil man sonst zu wenig über die Rohstoffmoral informiert ist und b) das Buch, hrsg. von Paul Liessmann, «Schuld und Sühne» über das Philosophicum Lech studieren. Ich hoffe sehr, dass das Buch bessere Argumentationen enthält als was hier bei Infosperber ausgeführt wird. Ich habe es bereits bestellt und werde ohne dessen Lektüre mich zu dieser Infosperber-Diskussion nicht mehr äussern. Auf keinen Fall mehr mit Ihnen in der Art der 250-Beiträge-Diskussion vom Januar, was unterdessen zu einer Regeländerung bei Infosperber geführt hat. Eine «wie immer» konstruktive Diskussion setzt Quellenkenntnis voraus.

  • am 21.04.2015 um 18:25 Uhr
    Permalink

    @Pirmin. Dass Sie unseren kleinen Disput in anderer Sache hieher tragen eintäuscht etwas. Ich hätte mir von Ihnen genrne Erhellendes und Beurteilung zum jetzigen Thema gewünscht; so insbesondere zu den sprachlichen Euphemisierungen und Vernebelungspraxis von geradezu Orwell’scher Prägung. Ich war schon bei der ersten sog. Finanzkrise ziemlich perplex von einem «Finanzzunami» zu lesen, anstelle eines Berichtes über die verursachenden Akteuren. Noch bedenklicher scheint mir allerdings, dass die Journalisten im allgemeinen solche Bezeichnungen un hinterfragt kolportieren und keinen kritischen Ansatz zu finden scheinen. Zunehmend werden menschliche Fehlleistungen als Naturgewalten deklariert, Beschreibungen handelnder Subjekte finden sich nicht. Liessmann ist ein Philosoph, der sich natürlich über die Fragwürdigkeit jedwelcher Begriffsfindung bewusst ist. Dazu wäre auch seine Schrift «Theorie der Unbildung» erhellend.

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 21.04.2015 um 18:29 Uhr
    Permalink

    Liessmann: das möchte ich zuerst lesen!

  • am 22.04.2015 um 12:24 Uhr
    Permalink

    @Pirmin: Wenn Sie schon mal dabei sind: Liessmann «Philosophie des verbotenen Wissens» Kapitel B.I: Der intuitive Mensch: Über das Gebälk und Bretterwerk der Begriffe.

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