Kommentar

In Madaja in Syrien droht Kannibalismus

Andreas Zumach © zvg

Andreas Zumach /  Die Geschichte auch des letzten Jahrhunderts zeigt, dass Hungersnöte als Folge von Kriegshandlungen zu Kannibalismus führen können.

Die Schreckensnachrichten aus der seit Juli 2015 von syrischen Regierungstruppen und libanesischen Hisbollah-Milizen belagerten Stadt Madaja – nordöstlich von Damaskus, nahe der Grenze zum Libanon – können nicht überraschen. Der Hungertod von Menschen, die seit vielen Monaten eingeschlossen und von jeglicher humanitärer Versorgung abgeschnitten sind, war absehbar und wurde vorausgesagt. Denn schon 2012 begannen in Syrien Kriegsparteien aller Seiten mit der Belagerung von Städten und Dörfern sowie dem Aushungern und gezielten Beschuß der Zivilbevölkerung. Das sind gängige militärische Praktiken, seit es Kriege gibt.

Mit diesem Hinweis versuchten auch die politischen und militärischen Führer des Naziregimes das bis heute größte Kriegsverbrechen dieser Art zu rechtfertigen: die 900tägige Belagerung von Leningrad durch die deutsche Wehrmacht. Ihr fielen zwischen 1941 und 1944 rund 1,2 Millionen russische Zivilisten zum Opfer – die meisten durch Hungertod. «Vom schaurigsten Stadtdrama, das sich hier entwickelt», schrieb selbst Joseph Goebbels in seinem Tagebuch.Das bereits in der Haager Landkriegsordnung von 1899/1907 vereinbarte und auch vom Deutschen Reich ratifizierte völkerrechtliche Verbot dieser «gängigen Kriegspraktiken» hatte sich als wirkungslos erwiesen. Ebensowenig konnten die mit der 4. Genfer Konvention von 1949 verschärften und präzisierten Bestimmungen zum Schutz von Zivilpersonen Anfang der 90er Jahre im bosnischen Bürgerkrieg die Milizen nationalistisch-faschistischer Serben und Kroaten davon abhalten, mit der Belagerung Sarajevos und anderer Städte derartige Kriegsverbrechen zu wiederholen.

«Der Tod kam leise, mucksmäuschenstill, tagein und tagaus, Monat um Monat alle 900 Tage lang. Wie wollte man dem Hunger entgehen? Unvorstellbares diente als Nahrung. Man kratzte den Leim von den Tapeten und kochte Ledergürtel. Man aß Katzen und Hunde. Und dann kam der Kannibalismus…» Mit diesen Wort beschrieb der 95-jährige Leningrad-Überlebende Daniil Granin vor zwei Jahren vor dem Deutschen Bundestag seine Erfahrungen.

Über 1’500 Fälle von Kannibalismus wurden seinerzeit in Leningrad dokumentiert. Kannibalismus droht jetzt auch in Madaja und anderen eingeschlossenen zivilen Wohngebieten in Syrien, wenn nicht endlich die humanitäre Versorgung der lebensbedrohten Menschen oberste und bedingungslose Priorität erhält.

Auch dafür liefert die Geschichte Beispiele. Etwa die vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) vermittelten und überwachten neutralen Zonen in Madrid im Spanischen Bürgerkrieg (1936) sowie in Jerusalem während des Palästina-Konflikts von 1948. Oder die nach ihrem Initiator benannte «Jaquinot-Zone» in Shanghai im chinesich-japanischen Krieg 1937.

In Syrien sind bislang fast alle Bemühungen des IKRK und der UNO-Vermittler gescheiert, die humanitäre Versorgung und das Überleben bedrohter Zivilbevökerung zu sichern. Die angebliche Zusage der Regierung Assad, jetzt endlich Hilfskonvois nach Madaja zu lassen, ist an die Bedingung einer entsprechenden Versorgung zweier von Rebellen belagerter Dörfer gebunden. Auch die Evakuierungen von Zivilisten aus umkämpften Ortschaften und die Verlegung von oppositionellen wie regierungstreuen Kämpfern in die Nachbarländer Türkei und Libanon, die seit Ende Dezember stattgefunden haben, waren jeweils Ergebnis politischer Gegengeschäfte. Offensichtlich ging es den an diesen Geschäftten beteiligten Kriegsakteuren vor allem darum, im Vorfeld der ab 25. Januar geplanten Genfer Verhandlungen zwischen der Regierung und Opposition das militärische Schlachtfeld zu arrondieren und sich auf dem politischen Schachbrett besser aufzustellen.

Alle Kriegsaktuere könnten diesen Verdacht entkräften, indem sie jetzt sofort, einseitig, bedingungslos und dauerhaft überall in Syrien Belagerungen beenden, die Waffen ruhen lassen und die ungehinderte humanitäre Versorgung der notleidenden Bevölkerung zulassen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Andreas Zumach ist spezialisiert auf Völkerrecht, Menschenrechtspolitik, Sicherheitspolitik, Rüstungskontrolle und internationale Organisationen. Er arbeitet am europäischen Hauptsitz der Uno in Genf als Korrespondent für Printmedien, wie beispielsweise die tageszeitung (taz), Die Presse (Wien), die WoZ und das St. Galler Tagblatt, sowie für deutschsprachige Radiostationen und das Schweizer Fernsehen SRF. Bekannt wurde Zumach 2003 als Kritiker des dritten Golfkrieges. Im Jahr 2009 wurde ihm der Göttinger Friedenspreis verliehen.

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Eine Meinung zu

  • am 9.01.2016 um 21:53 Uhr
    Permalink

    Eine vielleicht etwas naive Frage: Warum können nicht die Kampfbomber der USA und der Russen oder andere Flugzeuge über den bedrohten Dörfern Nahrungsmittel abwerfen statt Bomben?

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