Kommentar

Menschen sind gefragt, wenn sie gebraucht werden

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Jürgmeier /  Die «Arena» diskutierte wieder einmal die «Masseneinwanderungsinitiative» und den ökonomischen Bedarf an Menschen.

Alle waren sie da, am letzten Freitag 27. Juni 2014 – die VertreterInnen von Parteien, Wirtschaftsverbänden, Kantonen und Bundesämtern. Der Bundesrat liess sich, vermutlich, für die «Arena» von SRF mit dem Titel «Masseneinwanderungsinitiative: Der Bundesratsplan» vornehm entschuldigen. Nur jene, um die es eigentlich ging, waren zu diesem Herrengespräch mit Dame – CVP-Nationalrätin Viola Amherd war die einzige Frau, die in dieser Debatte zu Wort kam oder es ergriff – gar nicht erst eingeladen. Jene, die – wenn sie Glück haben – gebraucht werden und, auf Widerruf, ein Kontingent-Ticket erhalten, und jene anderen, die – weil kein weiterer Bedarf besteht – bleiben sollen, wo sie sind, in ihrer Heimat, und das ist die Armut. Denn, so beschreibt es Ilija Trojanow in seinem Essay «Der überflüssige Mensch»: «Die Überflüssigen sind nicht nur arm, sondern auch stimmlos und unsichtbar.»
Wirtschaftliche und …
Im Hinblick auf die Umsetzung der am 9. Februar 2014 von einer Mehrheit der Stimmenden angenommenen Masseneinwanderungsinitiative, Kontingente inbegriffen, fällt in dieser Sendung der Satz in Variationen und (fast) im Minutentakt: Entscheidend sind die Bedürfnisse der Wirtschaft und die Situation auf dem Arbeitsmarkt. Von menschlichen Bedürfnissen ist nie die Rede. Aus dem volkswirtschaftlichen Bedarf und dem inländischen Angebot an Arbeitskräften ergibt sich jeweils die Höhe des jährlichen Einfuhrkontingents von Menschenmaterial. Da waren sie sich einig. Nur SP-Nationalrat und Geschäftsleitungsmitglied der Unia Corrado Pardini versuchte, vorsichtig daran zu erinnern, dass Menschen nicht «auf billige Arbeitskräfte reduziert» werden dürften.

Menschen sind nur gefragt, wenn sie gebraucht werden, und gebraucht werden sie, wenn sie wirtschaftlich genutzt werden können, das heisst, ökonomischen Mehrwert für andere schaffen. Wo Menschen im Fokus der (ökonomischen) Nützlichkeit gesehen werden, sind sie gefährdet. Das zeigt sich auch an einem Zitat des englischen Ökonomen Thomas Robert Malthus in einer (unbereinigten) Fassung seines Essays «Das Bevölkerungsgesetz» von 1798: «Ein Mensch, der in einer schon okkupierten Welt geboren wird, wenn seine Familie nicht die Mittel hat, ihn zu ernähren, oder wenn die Gesellschaft seine Arbeit nicht nötig hat, dieser Mensch hat nicht das mindeste Recht, irgend einen Teil von Nahrung zu verlangen, und er ist wirklich zu viel auf der Erde» (zitiert in: Ilija Trojanow: Der überflüssige Mensch).
… andere Nützlichkeiten
Ich selbst erlag einer Art Nützlichkeitsdenken, als ich vor vielen Jahren einem bolivianischen Dichter im Rahmen einer Abschiedslesung – aufgrund veränderter politischer Verhältnisse hatte er sich entschlossen, in seine Heimat zurückzukehren – auf seine Einladung nach Bolivien antwortete: «Ich komme, wenn ihr mich braucht.» Das meinte ich natürlich nicht in einem ökonomischen Sinne, und nach Annahme der «Masseneinwanderungsinitiative» fragt sich ganz aktuell, ob es nebst der wirtschaftlichen nicht auch eine andere Nützlichkeit gibt und wie hoch das Kontingent für Menschen wäre, die hierzulande aus nicht-ökonomischen Gründen gebraucht würden. Weil sie einen Beitrag zur Einlösung politischer sowie sozialer Utopien zu leisten vermöchten, weil ein Kind oder ein anderer Angehöriger ihre Zärtlichkeit, ihre Unterstützung und ihren Trost benötigen, weil ihre Stimme im öffentlichen Diskurs unseres Landes fehlt, weil ihr Humor, ihre Sinnlichkeit und ihr Blick unseren Alltag bereicherten. Aber so ist das mit dem Bedarf, bestimmt, nicht gemeint.
Touristische Kontingente …
Im Übrigen muss mann&frau sich mal den Aufschrei vorstellen, wenn weltweit touristische Migrationskontingente definiert würden, jetzt, wo sie wieder grenzüberschreitend Koffer&Rucksäcke packen. Wenn nur noch in die Ferne fliegen oder fahren dürfte, wer da auch wirklich gebraucht wird – aus ökonomischen Gründen oder zur Stärkung des ökologischen Gleichgewichts. Da würde schnell einmal die Freiheit angerufen, die Reisefreiheit und die Freiheit des Marktes.

Freihandel&Globalisierung – das ist, so unterstellt das liberale Credo, die Freiheit, überall sein Glück zu versuchen. Qualität vor Nationalität. Tüchtigkeit vor Landestracht. Aber die Armen erhalten auf dem Weltmarkt keine Handelsgenehmigung. Denn sie handeln nur mit ihrem Unglück. In den unteren Kaufkraftklassen wird die Mobilität – das heisst, die Bewegung dahin, wo, Standortvorteil, die wirtschaftlichen Aussichten besser sind – zur Wirtschaftsflucht, der global player ohne Kapital verkommt zur Landesverräterin, die vor Problemen – die das Leben nun mal ausmachten – davonlaufe und seine Heimat schmählich im Stich lasse.
… oder Fahnenfluchten
Die MigrantInnen, ausgerechnet sie, werden an ihre Nationalität erinnert. Da, wo sie hungern, werden sie ermahnt, ist ihre Heimat. Fahnenflüchtige, die für ihre Kinder auf dem freien Markt ein warmes Plätzchen suchen. Der Mann von Welt ohne gefülltes Portemonnaie – eine Parasitin, die sich an fremden Trögen gütlich tut. «Die Schattenseite des Überflusses», schreibt Trojanow, «ist der überflüssige Mensch.»

Das ist nicht helvetischer Sonderfall, das ist mondiale Normalität. Ziel von Staaten ist es weltweit, das eigene Land den Reichen als attraktiven, den Armen als garstigen Ort zu präsentieren. Überall gilt der oder die Wohlhabende als willkommene Bereicherung, der oder die Mittellose als abzuwehrende Belastung. Und so kommen die Reichen, mit dem Scheckbuch in der Hand, in jedes Land; den Armen aber verhilft, und das auch nur im «eigenen» Land, bestenfalls der Pass zu bescheidenem Aufenthalt.

In einer Welt, in der, national&international, immer mehr Menschen überflüssig werden, weil, dank Automatisierung, immer weniger Menschen gebraucht werden, um den (steigenden) Bedarf an Gütern&Dienstleistungen bereitzustellen, erscheint die Abwehr der Fremden – nach dem Motto «Nationalität vor Qualität» – vielen als Schutz der eigenen Existenz. Aber ökonomische Zusammenbrüche und soziale Not halten sich so wenig an Landesgrenzen wie ökologische Katastrophen.
PS.
Übrigens: Auch in Bolivien war ich noch nie. Und Christoph Blocher war am Freitag wieder einmal in der «Arena», was keine echte Neuigkeit ist, und verlangte (auch nicht wirklich überraschend) mehr Redezeit, weil er – allein gegen den Rest der Welt, das «Schweizer Volk» ausgenommen – als einziger immer schon die Masseneinwanderungsinitiative vertreten habe.
Literatur
Ilija Trojanow: Der überflüssige Mensch, St. Pölten/Salzburg/Wien: Residenz Verlag, 2013


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6 Meinungen

  • am 30.06.2014 um 13:53 Uhr
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    Bin ganz der gleichen Meinung, deshalb schaue ich mir die Arena nicht mehr an. Sie trägt nur ganz wenig zu einer echten Meinungsbildung bei. Die Aspekte, die in diesem Beitrag zu finden sind, sucht man in der Arena vergebens.
    Hans Arnold

  • am 30.06.2014 um 21:01 Uhr
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    Bitte nicht immer auf die Tränendrüsen drücken! Die Linke, die immer das Wort «Nachhaltigkeit» und «ökologisches Gleichgewicht» im Munde führt, redet der ungehinderten Zuwanderung das Wort. Jedenfalls habe ich noch nie von der Linken gehört, wo für sie die «Grenzen des Wachstums» in der Schweiz liegen. Das die etwas mit der Bevölkerungszahl zu tun haben, liegt wohl auf der Hand.

  • am 1.07.2014 um 11:59 Uhr
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    Einverstanden mit Alex Schneider: Die Linken wissen nicht, wo die Grenzen des Wachstums in der Schweiz sind. Ihr Motto lautet: «Wir haben Platz, Platz für alle und jeden, der da kommen will, wir haben genügend Wohnraum, genügend Ausbildungsstätten, Verkehrsmittel, Arbeit usw.» Die sogenannte Wirtschaft weiss allerdings auch nicht, wo die Grenzen des Wachstums in der Schweiz wären.

  • am 3.07.2014 um 10:54 Uhr
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    Ja, die Linken leben immer noch der Maxime der französischen Revolution nach: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit (resp. «Geschwisterlichkeit» pol.korr.). Da gibt es natürlich keine Grenzen …. Die Wirtschaft will nur das erste, und zwar für sich selber. Leider denken auch die Grünen nicht über Grenzen nach.
    Folgerichtig haben wir jetzt eine EcoPop-Initiative, welche wir als ernsthaften Denkanstoss betrachten und diskutieren sollten. Man darf sich an die ökologische Warnung aus dem letzten Jahrhundert erinnern (sinngemäss):
    "Erst wenn der letzte Baum gefällt, der letzte Fisch gefangen, die letzte Wiese zugeteert ist, werden wir merken, dass man Geld nicht essen kann."

  • am 3.07.2014 um 13:04 Uhr
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    Ja, richtig, Daniel Nägeli, so ist es! Manchmal ist es kaum zu fassen.

  • am 8.07.2014 um 21:20 Uhr
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    Als ich in die Primarschule ging (1960er-Jahre), hatte die Schweiz 4,5 Mio. Einwohner. Heute, 50 Jahre später, sind es 8,2 Mio., beinahe eine Verdoppelung in 50 Jahren. Wenn das so weitergeht, hat die Schweiz 2065 16 Mio. Einwohner. Soll noch einer sagen, dass diese Entwicklung verkraftbar, geschweige denn zumutbar sei. Die neoliberalen Profiteure der PFZ opfern die lebenswerte Schweiz auf dem Altar des Profits, unter kopfnickender Zustimmung der Linken. Mehr ausländische Arbeitnehmer = tiefere Löhne und höhere Mieten. Das Nachsehen haben die Schweizer Arbeitnehmer, spätestens ab 50+ (und die Sozialämter).

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