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Barack Obama: Die Selbstzweifel eines Präsidenten im Wahlkampf 2012. © us

«Ich weiss nicht, ob ich das kann»

Jürg Lehmann /  Die Wiederwahl Barack Obamas hing an einem dünnen Faden. Ein Buch beschreibt, wie der US-Präsident seine Selbstzweifel überwand.

Denver, 3. Oktober 2012. Das erste TV-Duell zwischen Barack Obama und dem republikanischen Herausforderer Mitt Romney ist vorbei. Romney eilt von der Bühne in die Garderobe und wird von seinem Team jubelnd empfangen. Seine Frau Ann umarmt ihn, Sohn Tagg ruft begeistert: «Dad, Du hast ihn vernichtet!» Was war geschehen?

Romney hatte neunzig Minuten lang die Bühne dominiert. Er trat eloquent, freundlich und doch hartnäckig auf, bestimmt und doch humorvoll – wie ein Präsident. Obamas Lager dagegen musste konsterniert zusehen, wie ihr Mann völlig neben den Schuhen stand. Er wirkte abwesend und schläfrig, kritzelte Notizen auf Zettel und starrte auf das Pult vor sich hin. Keine Spur von Verve und Leidenschaft.

Der Präsident hasst TV-Duelle

Obwohl, ganz überraschend kam das nicht. Obama verachtet TV-Debatten mit ihren Showeffekten, vorgefertigten Sätzen und antrainierten Sound-Bytes. («Das sind keine Debatten, das sind Gladiatoren-Kämpfe.») Lieber analysiert und entwickelt er Argumente Schicht für Schicht. Darum mag er es nicht, wenn man ihn dabei unterbricht. Dann kann er arrogant werden. Oder er kehrt den Pedanten heraus, der sich in Details verbeisst.

Das wusste das Obama-Beraterteam. Und es wusste, dass der Präsident Romney verachtete. Ein millionenschwerer Businessman ohne moralischen Kompass und Bodenhaftung; ein Flipflopper, der seine Meinung dort in den Wind hängt, wo er am stärksten weht.

Der heutige US-Aussenminister John Kerry spielte in Obamas Trainings-Camps das Double Romneys. Seit dem Sommer übte Obamas Wahlkampfteam das Duell von Denver und versuchte, den Chef in die Spur zu bringen. Wie intensiv das ablief, beschreiben die US-Journalisten Mark Halperin und John Heilemann im Buch «Double Down». Aus hunderten Gesprächen verfassten sie eine detailreiche Insider-Story über den US-Wahlkampf 2012 um das Präsidentenamt.

Eines der besten Bücher 2013

Das Magazin «The Economist» zählt den 500-seitigen Wälzer zu den wichtigsten Büchern von 2013. Er kann als Fortsetzung des Bestsellers «Game Change» gelesen werden, in dem das gleiche Autorenteam den Wahlkampf von 2008 dokumentierte, als der noch weitherum unbekannte schwarze Senator Barack Obama aus Illinois die haushohe Favoritin Hillary Clinton ein- und überholte und demokratischer Präsidentschaftskandidat wurde.

Auch diesmal holen Halperin/Heilemann weit aus, sie schildern das vielköpfige Gerangel um die republikanische Kandidatenkür, aus dem Romney schliesslich als ungeliebter Sieger hervorgeht. Sie leuchten den Hintergrund zum bizarren Auftritt von Clint Eastwood am Parteitag der Republikaner aus, wo die Hollywood-Legende auf der Bühne zu einem leeren Stuhl spricht, auf dem er Obama sitzen sieht – die Parteitags-Regie wusste nichts davon, und Eastwood palavert zwölf quälende Minuten lang statt der vereinbarten vier.

Wir lesen, wie sich das Team Obama auf dem Weg zur Wiederwahl siegessicher wähnte – obschon die Sponsoren-Millionen nicht wie erwartet flossen, weil sich einige Grossspender enttäuscht vom ersten schwarzen Präsidenten abgewendet hatten.

Aber die Meinungsumfragen zeigten über Wochen und Monate hinweg in den wahlentscheidenden Bundesstaaten einen soliden, wenn auch knappen Vorsprung auf Herausforderer Mitt Romney. Das ist auch nach dem Denver-Duell noch der Fall.

Romneys Berater spüren: Er kann gewinnen

Aber jetzt reitet Mitt Romney auf einer Erfolgs- und Popularitätswelle. Er hat im Duell vor der TV-Nation erstmals präsidiales Format gezeigt und seine Berater spüren, Romney kann es schaffen. Plötzlich fliessen neue Gelder in die Kampagne und die konservativen Aktionskomitees.

Das Obama-Lager wird nervös. Umfragen nach Denver belegen: Ein zweites Mal darf sich Obama im TV-Duell keinen Flop leisten, sonst kann Romney gewinnen. Plötzlich hängt die Wiederwahl an einem dünnen Faden. Das zweite TV-Duell am 16. Oktober in Hempstead (N.Y.) wird über Obamas Schicksal entscheiden.

In Hempstead ist die Übungsanlage anders als in Denver. Die Kandidaten nehmen Fragen aus dem Publikum entgegen. Also müssen sich die Camps der beiden Kandidaten nochmals intensiv vorbereiten. Wieder übernimmt Kerry bei den Demokraten den Part Romneys. Obama hat aus Denver gelernt. Er tritt souverän auf.

Plötzlich ist der arrogante Obama zurück

Aber zwei Tage vor dem zweiten Live-Duell kommt der Rückfall. Der arrogante Obama ist zurück. «Unterbrechen Sie mich nicht!», schnauzt er Kerry-Romney unwirsch an. Der Präsident ist unkonzentriert, die Chemie mit den Fragestellern spielt nicht. Obama gibt wortreiche, aber von vielen Pausen unterbrochene Antworten ohne klare Botschaften.

Seine Berater sind schockiert. Nach neunzig langen Probe-Minuten verabschiedet sich Obama und zieht sich zurück. Das Denver-Trauma hängt in der Luft. Das Berater-Team diskutiert bis um 2 Uhr morgens wie es weitergehen soll. David Plouffe, einer der engsten Obama-Berater sagt: «Wenn wir das nicht hinkriegen, können wir die ganze verdammte Wahl verlieren!» Man will Obama damit konfrontieren.

Krisensitzung am Tag vor der Auftritt. Obama trifft ein. Debatten-Coach Ron Klain sagt: «Mr. President, wir sind hier, weil wir ernsthaft darüber sprechen müssen, warum es nicht funktioniert und die fundamentale Veränderung, die wir heute erreichen müssen, um morgen Abend ein schlechtes Resultat zu verhindern.» Jetzt spricht Obama: «Ich bin am kämpfen.Ich war nicht gut gestern. Ich weiss es.»

Seelenstrip eines Präsidenten

An dieser Stelle schildern Halperin/Heilemann fesselnd, wie nun Obama vor seinen engsten Beratern einen Seelenstrip macht, bei dem er seine Ängste und Nöte auf den Tisch legt: ein Moment völliger Offenheit und Vertrautheit. Obama äusssert sich sinngemäss so:

Wenn mir eine Frage gestellt wird, schalte ich sofort auf Logik-Modus: Hier ist ein Problem, da ist die Antwort. Sprechen wir zum Beispiel über Immigration. Ich weiss, was ich gerne dazu sagen möchte, aber ich darf es nicht. Ich muss mir einreden: Denk zuerst darüber nach, was das bedeutet! Ich weiss genau, wo mich meine Gedanken hinführen, aber ich muss mir selber sagen: Nein, tue es nicht – mach etwas anderes. Mein Instinkt will einfach nicht, dass ich etwas vorspiele.

Es fällt mir leicht, in das zurückzufallen, was ich kann: Ich kann Argumente sezieren. Ich denke, wenn ich rede. Das führt zu Pausen. Ich komme nur langsam in die Gänge. Es fällt mir schwer, in eine Antwort hineinzuschlüpfen. Ich muss mein Gehirn lehren, anders zu ticken. Aber das ist so, wie wenn ihr von mir als Linkshänder verlangen würdet, mit rechts zu schreiben. Ich bin anders verdrahtet als es diese Veranstaltungen erfordern.

Dann macht Obama eine Pause und fügt an: «Ich weiss einfach nicht, ob ich das kann.»

Obama weiss jetzt: Ich kann verlieren

Obamas Team hört still und gleichzeitig gebannt zu. Keine 24 Stunden vor dem Anlass, der über seine Wiederwahl mitentscheiden wird, spricht der Präsident nicht über Strategie und Taktik. Er spricht über seine Widersprüche, sein Unbehagen mit der Wahlkampagne und mit den politischen Erfordernissen unter Dauerbeobachtung der Medien – es ist das Zugeständnis, die Wahl verlieren zu können.

Jetzt spricht sein langjähriger Vertrauter David Axelrod. Von den Anwesenden steht er Obama am nächsten, Selbstzweifel des Präsidenten sind ihm nicht unbekannt. Er sagt: Wir wissen, dass Sie diese Debatten als frustrierend empfinden, weil sie mehr Spiel als Substanz sind. Genau darum sind Sie ein guter Präsident. Wir möchten alle, dass Sie gewinnen. Aber Sie müssen den Kampf gegen das Spiel aufgeben – um dieses Spiel mitzuspielen.

Kurz vor dem Auftritt in der Hofstra-Universität von Hempstead trifft Obama in den Gängen Ron Klain, David Plouffe, David Axelroad und Jim Messina. Er sagt: «Heute Abend bin ich gut. Ich habe es endlich begriffen.» Dann beginnt das zweite TV-Duell. Obama ist nicht mehr wiederzuerkennen. Er ist präsent und schlagfertig. Er hört den Fragestellern aufmerksam zu, geht auf sie ein, sucht Augen-Kontakt. Er drängt Mitt Romney in die Defensive.

Dort bleibt der Herausforderer. Obama gewinnt das Duell und sechs Nächte später auch das dritte in Boca Raton, Florida. Der Rest ist Geschichte. Barack Obama wird am 7. November 2012 wiedergewählt. Er holt 51 % der Stimmen, Romney 47 %. Das Romney-Lager hatte bis zuletzt an den Sieg geglaubt, zumindest an ein Kopf-an-Kopf Rennen.

Lehrstück über Macht, Einfluss und Geld

Ein spannendes Buch, das bis in Verästelungen hinein facettenreich den US-Wahlkampf um das höchste Amt im Land beschreibt und Hintergründe ausleuchtet. Es ist Lehrstück über die gigantische Maschinerie um präsidiale Macht, Einfluss und Geld. Die Autoren führten nach eigenen Angaben zwischen 2010 und 2013 dafür 500 Gespräche mit über 400 einzelnen Personen. Das Allermeiste waren Hintergrundgespräche. Zitate haben sie nur gesetzt, wo sie verbürgt sind. Das gilt darum auch für die Zitate aus dem Buch im obigen Text.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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