Kommentar

Herausforderung des Islam (3):Der Fundamentalismus

Erich Gysling © zvg

Erich Gysling /  Der islamische Fundamentalismus entsteht aus dem Kampf gegen fremde Besatzer und der Suche nach der eigenen Identität.

Ein Ägypter namens Hassan al-Banna gründete 1928, u.a. als Reaktion auf die Übergriffe westlicher Mächte, auf Sykes/Picot und die Balfour-Deklaration, die Moslem-Bruderschaft. Ein anderer Ägypter, Saied Qutb, verfasste Jahre später das ideologische Basiswerk für den islamischen Fundamentalismus (Ma’alim fi’l tariq). Sein Kerngedanke: Herrscher im Bereich des Islams müssen ersetzt werden durch Gläubige, wenn notwendig mit Gewalt. Und Ausländer, welche den Islam in dessen Kerngebiet nicht respektieren, muss man verjagen oder töten. Dann gilt es, eine islamische Republik zu schaffen, mit rein islamischen Gesetzen.

Fundamentalismus in der arabischen Welt

Soweit die Ideologie. Aber wo rekrutierten, wo rekru-tieren die Fundamentalisten ihre Anhänger? Teils bei den Schichten von sozial Benachteiligten, teils in der Mittelschicht und dort mit Vorliebe unter Studierenden. Diese sind oft sozusagen institutionell frustriert, weil sie kaum Aussichten haben, nach dem Abgang von der Universität einen ihren Fähigkeiten entsprechenden Job zu bekommen. Würde die Gesellschaft radikal, entspre-chend rigoroser Auslegung von islamischen Grundsätzen, umgewandelt, fänden sie – so die verbreitete Meinung – auch einen sinnvollen Platz innerhalb der Gemeinschaft.
1981 ermordeten ägyptische Fundamentalisten, unter Berufung auf die Ideologie von Sayed Qutb, Staatsprä-sident Anwar as-Sadat. Mit der Begründung, Sadat sei ein Verräter an der Sache des Islams, weil er mit Israel Frieden geschlossen hatte. Kurze Zeit später versuchten Fundamentalisten in der syrischen Stadt Hamah, eine islamische Republik zu proklamieren – mit verheerenden Folgen. Syriens Präsident, Hafez al-Assad, liess ganze Stadtquartiere von Hamah mit Artillerie bombardieren. Die Fundamentalisten kapitulierten. Einen opferreichen Krieg zwischen Fundamentalisten und dem Regime durchlitt Algerien, und Attentate gab es immer wieder in Ägypten, in Jordanien, in Tunesien, Marokko und Ostafrika. Als zugehörig zu Al-Qaida, der brutalsten fundamentalistischen Organisation, bezeichneten sich ab etwa 2005 Terrorgruppen (die sich auf die Entführung von Ausländern «spezialisierten») in Mauretanien, Mali, Niger und im südlichen Algerien.
Und Anschläge verübten Fundamentalisten immer wieder gegen westliche, insbesondere gegen US-amerikanische Einrichtungen in Nah- und Mittelost.

Fundamentalismus und soziales Handeln

Aber fundamentalistische Organisationen profilie-ren sich auch durch soziales Engagement. Sie bauen und betreiben Schulen (natürlich mit islamischen Lehr- und Lernprogrammen) und sie bieten sich der Bevölkerung als Katastrophenhelfer und als Fachpersonal in Spitälern an. Als in Kairo ein Stadtteil durch ein Erdbeben schwer beschädigt wurde, waren die fundamentalistischen Moslem-Brüder viel schneller mit ihren Ambulanzen zur Stelle als die staatlichen Instanzen. Im Süden Libanons sorgten die dem Fundamentalismus nahe stehenden Hizb-Allah Milizen dafür, dass die dort lebenden Schiiten zu besserer Schulbildung gelangten. Und Hamas, ebenfalls eine fundamentalistische Gruppierung, zeigte, dass ihre Mitarbeiter im Gaza-Streifen immun sind gegen Bestechung und Korruption. So gelang und gelingt es fundamentalistischen Organisationen immer wieder, die Gunst der Bevölkerung zu gewinnen. Die Bevölkerung anderseits geht normalerweise davon aus, dass die Fundamentalisten in ihren eigenen Ländern nicht derart radikal zur «Steinzeit» zurückkehren wollen wie die Taliban in Afghanistan. Ob sie sich da nicht täuschen?

Krieg mit den USA

Bis zum Jahr 2011 liessen sich die USA den Krieg gegen die Taliban gegen 350 Milliarden Dollar kosten. Immer wieder gab das US-Militär Berichte ab, wonach diese oder jene Region von den Taliban befreit worden sei. Um kurze Zeit danach konstatieren zu müssen, dass die Taliban eben doch wieder die Kontrolle erlangt hatten. Nüchternheit, dann Desillusionierung machten sich bei den US-Truppen und auch bei den Truppen der anderen in Afghanistan aktiven Länder breit. In diesem Land der Demokratie zum Durchbruch zu verhelfen, das erschien je länger desto mehr illusionär.
Im westlichen Nachbarland Afghanistans, in Iran, gab es eine andere Problemlage, aber vorerst erschien sie ebenso vertrackt. Die Beziehungen mit den in Teheran herrschenden islamischen Rechtsgelehrten waren, aus westlicher Perspektive, seit 1979 schwer belastet. Die USA (in weniger zugespitzter Weise auch westeuropäi-sche Regierungen) hatten bis gegen das Ende des Jahres 1978 versucht, den Schah (Reza Pahlevi) an der Macht zu halten. Dann brachen in Iran alle Dämme: der Schah musste Iran verlassen, Ayatollah Khomeini kehrte aus dem Exil nach Teheran zurück und das Land wurde zur islamischen Republik.
Noch gab es eine US-Botschaft in der Hauptstadt, aber fanatisierte Jugendliche befanden, von dort werde aktiv an der Unterminierung der neuen Regierungs- und Le-bensform gearbeitet. Revolutionswächter stürmten die Botschaft und nahmen mehr als 50 Amerikaner als Gei-seln – sie hielten sie fast ein Jahr lang gefangen. Aya-tollah Khomeini bezeichnete die USA als «grossen Satan», die USA nannten später Iran Teil einer «Achse des Bösen».
Im Krieg zwischen Irak und Iran (1980 bis 1988) unter-stützte der Westen das Regime von Saddam Hussein, obwohl man wusste, dass Saddam den Krieg provoziert hatte und dass der gleiche Saddam Hussein in seinem eigenen Land die Bevölkerung knechtete, tyrannisierte, terrorisierte. Die USA – und mehrheitlich wurden sie da von westeuropäischen Regierungen unterstützt – wollten vor allem eine Ausbreitung der islamischen Republik vermeiden. Und eine solche Ausbreitung schien tatsächlich für einige Zeit zu drohen: hatte nicht Ayatollah Khomeini selbst ausgerufen, er wolle seine «Revolution» bis nach «al Quds», also bis nach Jerusalem, tragen?

Kulturkampf und Anti-Zionismus

Das iranische Regime stilisierte die Probleme mit west-lichen Mächten hinauf zu einem Kulturkampf, zu einem moralisch reinen Islam gegen einen verworfenen, sün-digen Westen. Dies allerdings war zeitlich begrenzt – nach Khomeinis Tod (1989) gab es innerhalb der isla-mischen Republik Aufstiegschancen auch für Reformer, und diese (vor allem Mohammed Khatami) suchten nach einer Mässigung im Dialog mit den USA und dem Westen insgesamt. Ohne Erfolg allerdings – die Reformer konnten sich in Iran selbst nicht durchsetzen (ihnen fehlte die «Hausmacht» in den wichtigen Organen des komplizierten Staatswesens) und sie wurden auch frustriert durch Abweisung durch die US-Regierungen. Keine Administration in Washington zeigte sich bereit, die Sanktionen gegenüber Teheran zu mildern, im Ge-genteil: die Schraube hinsichtlich Exporte von Technologie und Wirtschaftskontakte wurde immer enger angezogen. Was in Iran, bei breiten Bevölkerungsschichten (auch oppositionellen!) die Meinung verstärkte, man könne tun, was immer man wolle, die USA seien dennoch nicht zum Dialog bereit.
Als im Sommer 2005 Mahmud Ahmadinejad zum Staatspräsidenten Irans gewählt wurde, verdüsterte sich die Stimmungslage zusätzlich. Ahmadinejad sagte, Israel sollte eigentlich nicht auf der Landkarte des Nahen Ostens figurieren (ergänzte allerdings, er würde keinen Krieg gegen Israel befürworten), der Zionismus sei zum Untergang verurteilt und der Holocaust, also die Ver-nichtung von sechs Millionen Juden durch Nazi-Deutschland, sei nicht erwiesen. Er wollte mit solchen Aussagen bewusst provozieren – denn er stellte gleich-zeitig die Frage: Wenn es denn den Holocaust gegeben habe, warum hätten dann die westlichen Länder nicht dafür gesorgt, dass man den Juden in Europa eine Heimstätte geschaffen habe? Warum ausgerechnet in Palästina? Warum auf Kosten der Palästinenser, der Muslime? Und in der Folge sprach er immer wieder von den «Ländern des Holocausts», was klar machte: er wusste durchaus, dass der Holocaust historisch eindeutig erwiesen war und ist.

Der Atomkonflikt

Nun vermischten sich erneut, im Verhältnis zwischen dem Westen und der vom Islam geprägten Welt, verschiedene Probleme: Iran war und ist eine islamische Republik, Iran ist aber auch eine aufstrebende Atommacht. Das Regime in Teheran beharrte darauf, dass seine Atomforschung nur friedliche Zwecke verfolge, vor allem den Betrieb des Kernkraftwerks Busheer im Süden des Landes. Anderseits gab / gibt es im ganzen Land eine grosse Zahl von Forschungsstätten und Anlagen für die Anreicherung von Uran, die gegenüber den Inspektoren der Internationalen Atomenergieagentur nur zögerlich oder nicht vollständig geöffnet wurden. Die Experten im Westen kamen mehrheitlich zum Befund: Iran will wahrscheinlich nicht direkt auf die Entwicklung einer Atombombe hinsteuern, aber das Regime möchte eine Schwelle erreichen, die es ihm notfalls ermöglicht, eben doch möglichst rasch eine Bombe zu konstruieren.
Was hiess / heisst notfalls? Wohl dann, wenn eine feindliche Macht (da dachte man in Teheran in erster Linie an Israel, in zweiter an die USA) eine Attacke gegen eine iranische Anlage lancieren würde. Ab diesem Moment, so wohl die Strategie in Iran, werde man schnell und konsequent auf die eigene Bombe hinarbeiten.
Einmal mehr vermischte sich nun Ideologie mit Sach-politik. Viele westliche Strategen / Politologen / Politiker sahen hinter dem Verhalten der iranischen Führung in erster Linie islamische Grundhaltungen. Hatte nicht Khomeini einmal von einer «islamischen Bombe» ge-sprochen und damit wohl die Atomwaffe gemeint? Gab es nicht sogar in Pakistan, dem äusserlich mit den USA verbündeten Land, Politiker und Fachleute, die dem Islam seine eigene Atomwaffe zubilligen wollten (und schliesslich wurde Pakistan ja zur Atommacht)? Gab es, anderseits, nicht auch ein Bedrohungsszenario von seiten Israels, evtl. der USA, Iran betreffend? Immer wie-der sprachen israelische Politiker von einem «unvermeidbaren» Schlag gegen die iranischen Atomanlagen.

Drohung und Gegendrohung

Die USA bremsten die Rhetorik der Israeli nur sehr schwach. Und so verschaffte man iranischen Hardlinern wie Präsident Ahmadinejad immer wieder die Gelegen-heit zu verbalen «Höhenflügen». Wir werden den Feind abwehren, rief er immer wieder aus, und wenn Ahma-dinejad grosse Reden hielt, dann präsentierte das irani-sche Militär auch gerne neue Langstreckenraketen und Abfangwaffen. So schaukelte sich die Lage immer mehr hoch – und letzten Endes wurde immer verworrener, ob es sich bei einem drohenden Krieg nun um rein faktische Themen handeln würde oder eben doch um einen ideologischen Konflikt, zwischen westlichen / israelischen Kräften einerseits und islamischen anderseits.
Die iranische Führung sprach im Hinblick auf einen möglichen Krieg schon von einem «Jihad» und meinte damit, dass das Land, das Volk sich allenfalls mit sämt-lichen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen müsse. Denn ein Angriff auf eine iranische Atomanlage, so gaben die Mullahs zu verstehen, wäre gleichbedeutend mit einem Angriff auf die Religion, auf den Islam. Dass der Westen, dass auch Israel das ganz anders sah, war für die Führung in Teheran be-langlos.

Das neue Selbstbewusstsein der Schiiten

Auch in Irak verwoben sich religiöse / weltanschauliche / politische / wirtschaftliche Aspekte auf eine schwer verständliche Weise ineinander. Die USA wollten den Irakern mit dem Kampf gegen das Saddam Hussein-Regime die Demokratie «schenken». Sie mussten aller-dings bald feststellen, dass man dieses «Geschenk» bei jeder Ethnie, bei jeder religiösen Gruppe anders verstand. Für die Kurden bedeutete es, dass sie weitgehend autonom werden könnten, fast bis zur Gründung eines eigenen Staats. Für die Schiiten hiess es, dass sie, die ja innerhalb Iraks die Bevölkerungsmehrheit stellen, die künftige Regierung bilden und das Land in vielen Bereichen dominieren könnten. Für die Sunniten bein-haltete der Begriff Demokratie die Hoffnung, dass sie als Minderheit respektiert würden.
Was die USA unterschätzten, war die Wucht des Reli-giösen innerhalb Iraks. Die Schiiten, jahrzehntelang von sunnitischen Regimen unterdrückt (nicht nur durch je-nes von Saddam Hussein), errangen sich ein neues Selbstbewusstsein. Und fanden in Iran mit dessen Schii-ten als dominierender Kraft einen Bündnispartner – was regional einer historischen Zäsur gleichkam. Denn Ara-ber und Iraner (Perser) hatten sich jahrhundertelang als Gegner gegenüber gestanden, und diese Feindschaft schien jetzt überwunden – zumindest im Verhältnis zwischen den in Irak herrschenden Schiiten und jenen in Iran.
In anderen Ländern der nah- und mittelöstlichen Region aber löste dieses neue Bündnis Abwehrreflexe aus – man befürchtete in vielen arabischen Ländern, in denen Sunniten die Mehrheit stellten, die Bildung eines schii-tischen Machtblocks. Iran erkannte man von Riad bis Kairo und Algier als den wahren Gewinner des US-Kriegs gegen das Saddam Hussein-Regime in Irak. Ein Resultat, das sich der frühere US-Präsident, George W. Bush, sicher in seinen schlimmsten Träumen nicht hätte vorstellen wollen!

Teil 4, «Der Umbruch», dieser Serie von Erich Gysling erscheint am 10. April 2011auf «infosperber»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

Arabellion

Arabellion: So geht es weiter

Von Tunesien, Ägypten bis nach Syrien sprach man vom «arabischen Frühling». Wer gewinnt den Poker um die Macht?

Bildschirmfoto20120226um12_51_13

Atommacht Israel und ihre Feinde

Teufelskreis: Aggressive Politik auf allen Seiten festigt die Macht der Hardliner bei den jeweiligen Gegnern.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.