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Nur wer die andere Seite kennt, kann auch verstehen... © ZEIT

Sich in den Anderen hineindenken!

Christian Müller /  Die meisten Konflikte basieren auf mangelndem Einfühlungsvermögen. Eine vernachlässigte menschliche Fähigkeit.

Wer immer einen anderen Menschen charakterisiert, er bedient sich vor allem der folgenden Eigenschaften: intelligent (oder dumm), fleissig (oder faul), zuverlässig (oder unzuverlässig), freundlich (oder unfreundlich), nett, arrogant, liebenswürdig, konziliant, überheblich, und und und. Aber sagt je einer: Der und der ist einfühlsam? Er ist fähig, sich in die Situation Anderer hineinzudenken?

Nur wenige versuchen es

Das meiste, das mit «Realität» oder gar mit «Wahrheit» bezeichnet wird, ist die Realität oder die Wahrheit aus einer persönlichen Sicht. Sobald man diese Realität oder Wahrheit aber aus einer anderen Perspektive betrachtet und beurteilt, ist Vieles ganz anders. Und das gilt auf allen Ebenen: in den persönlichen Beziehungen zu anderen Menschen, in den Beziehungen zwischen Menschen oder Gruppen im näheren Umfeld, zum Beispiel zwischen Nachbarn, aber auch in den (politischen) Beziehungen zwischen verschiedenen Staaten.

Viele zwischenmenschliche Beziehungen scheitern daran, dass die beteiligten Individuen sich zu wenig in die Gegenseite hineinzudenken versuchen. Jeder Eheberater und Psychiater könnte dazu Bücher schreiben (Einige haben es auch getan). Doch dieses Thema lassen wir hier mal beiseite.

Werfen wir aber einmal einen Blick auf nachbarschaftliche Beziehungen. Ich gehe regelmässig in ein Ferienhaus an einem Sonnenhang über dem Lago Maggiore in die Ferien. Da stehen ein paar Dutzend Ferienhäuser. Die Lage ist ein Traum, die Sicht auf den See grandios, die Lebensqualität optimal. Wer allerdings dächte, hier sei auch ein kleines Friedensparadies, der täuscht sich, denn viele der Ferienhausbesitzer haben mit den Nachbarn Probleme. Grund für den Zoff sind fast immer zu hoch gewachsene Sträucher und Bäume. Sie verdecken, stetig wachsend, irgendeinmal dem weiter oben am Hang stehenden Haus die freie Sicht auf den Lago. Aber obwohl alle, die hier ein Ferienhaus haben, dieses der einmaligen Sicht auf den wunderschönen See wegen gekauft haben, ist es keineswegs selbstverständlich, dass sie die Sträucher und Bäume im eigenen Garten so zurückschneiden, dass auch dem oberen Nachbarn diese Sicht erhalten bleibt. Einige sind deshalb schon vor Gericht gegangen. Und dabei müssten sich die Ferienhauseigentümer nur in die Situation der (oberen) Nachbarn hineindenken – und die Situation wäre klar.

Schwierig wird es im politischen Bereich

Nehmen wir die US-Amerikaner als (noch immer) stärkste Weltmacht. Mit etwas über 300 Millionen meist englischsprechenden Einwohnern gibt es da wenig Veranlassung, eine Fremdsprache zu lernen. Mit dem arktischen Alaska im Norden und dem subtropischen Florida im Süden gibt es auch wenig Veranlassung, die Ferien ausserhalb des «Landes» zu verbringen. Viele kennen also nur die eigene Kultur, die eigenen Wertvorstellungen, die eigenen Verhaltensregeln, die eigenen Ideale – und sie gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass diese die einzig richtigen und erstrebenswerten sind. Und dass alle Menschen auf unserer Erde diese gleichen Ideale anstreben.

Als George W. Bush im Januar 2001 Präsident der USA wurde, sprach er keine Fremdsprache und hatte ein einziges Mal ein anderes Land besucht: den Nachbarstaat Mexiko. Die Fähigkeit, ein Problem aus anderer Perspektive als aus US-amerikanischer Sicht zu beurteilen, ging ihm deshalb total ab. Und entsprechend viele Fehlbeurteilungen und Fehlentscheide waren die Folge. Auch riesige Niederlagen – nicht zuletzt auch militärische.

Ein persönlich erlebtes Beispiel mangelnden Einfühlungsvermögens

Als ich im Jahr 1988 mehrere Wochen in China weilte, hatte ich eine junge Mitarbeiterin von Radio Beijing als Übersetzerin. Ein Jahr später hatte sie die Chance, mit einem Stipendium des Goethe-Instituts ein halbes Jahr nach Deutschland zu gehen. Natürlich lud ich sie und ihren Mann auch in die Schweiz ein, für eine Woche und auf meine Kosten. Und ich zahlte den beiden ein SBB-Ferien-Abo. Am ersten Tag fuhren sie nach Genf, am Abend zurück. Am zweiten Tag nach Lausanne, am Abend zurück. Am dritten Tag wollten sie nach Neuenburg. Ich war verärgert. Was soll das eigentlich? Wenn es ihnen einfach darum gehe, möglichst viel zu sehen, dann sollen sie mit dem Glacier-Express von Chur nach Zermatt fahren, auf den Gornergrat gehen, in Zermatt übernachten, und am nächsten Tag über das Unterwallis und mit der Montreux-Oberland-Bahn via Interlaken zurückzukommen, sagte ich. Und ich gab ihnen das nötige Geld, um diese schönste Schweizer Reise zu machen.

Was haben die beiden jungen Chinesen gemacht? Sie gingen um 05 Uhr auf den ersten Zug, fuhren wie vorgeschlagen über Chur nach Zermatt und auf den Gornergrat, blieben dort genau bis zum nächsten Bähnchen hinunter ins Touristendorf, dort nichts wie los in die Bahn runter nach Brig und via Unterwallis und das Berner Oberland zurück. Um 01 Uhr Nachts waren sie wieder zuhause. Ich war erneut verärgert: auch fürs Hotel in Zermatt hatte ich ihnen doch Geld gegeben! Bis ich darüber geschlafen und dabei versucht hatte, mich in sie hineinzudenken. Richtig: Die Nacht im Hotel in Zermatt hätte so viel gekostet, wie der junge Mann in Beijing (damals) in drei Monaten verdiente. Da nahmen sie doch lieber die Strapazen einer 20-Stunden-Reise auf sich, als drei Monatslöhne für eine Hotelnacht auszugeben. Ich musste ihren Entscheid deshalb nicht nur akzeptieren, ich verstand ihn jetzt auch – auch wenn er, aus meiner Sicht, schwer nachvollzieh war.

Anderer Lebensstandard, andere Prioritäten

Wir alle haben hier, in der Schweiz, genügend zu essen. Und demokratische Verhältnisse sind uns eine Selbstverständlichkeit. Die Freiheit ist unser Höchstes, sagen wir. Für sie würden wir jederzeit – auch mit Waffen! – zu kämpfen bereit sein. Dass die Menschen auf der Halbinsel Krim anlässlich des Referendums am 16. März 2014 sich für einen Anschluss an Russland ausgesprochen haben, ist für uns deshalb undenkbar. Das kann nur aus Angst vor den bewaffneten russischen Soldaten geschehen sein!

Falsch: Die meisten Menschen auf der Krim sind bettelarm. In der fast tausend Kilometer entfernt liegenden Hauptstadt Kiew kümmerte sich bislang niemand um sie. Die Ukraine ist pleite, schon in wenigen Wochen können nicht einmal mehr die Renten bezahlt werden. Russland aber ist reich; reich an Erdgas vor allem, aber auch an Uran und anderen Bodenschätzen. Und Russland verspricht Gas zum Heizen, sichere Renten und Arbeitsplätze. Soll man da noch an Demokratie und Freiheit denken? Wo Menschen Hunger haben – und da kommen Angebote von zwei verschiedenen Seiten: die eine Seite verspricht Freiheit und die andere Brot? Für wen entscheiden sich die Hungernden?

»Amerika», die USA, das Land der Freiheit! Ja, es ist gut so, aber nicht alle träumen davon, Zustände wie in den USA im eigenen Land zu haben. Ich möchte zuerst mein tägliches Brot – meinen Reis, meine Bananen, oder was immer –, für mich und meine Familie auf sicher haben. Dann möchte ich die Chance haben, einen Arzt zu finden, den ich zahlen kann, wenn ich krank bin. Und auch ein Spital. Und ich möchte meine Kinder zur Schule schicken können, nicht nur fünf oder sieben Jahre, vielleicht auch mehr, ins Gymnasium oder gar an die Universität, ohne dafür unendlich viel Geld zahlen zu müssen. Die «Freiheit», vom legendären Tellerwäscher zum Milliardär zu werden, mag ja schön sein. Aber habe ich auch eine reale Chance? Hoffnungsvolle Eltern in den USA haben, wegen der hohen Ausbildungskosten für ihre Kinder, zusammengerechnet mehr Schulden als alle Kredit-Karten-Besitzer in den USA zusammen: Rund 1200 Milliarden Dollar! 40 Millionen US-amerikanische Familien haben Schulden wegen der ihnen ohne fremdes Darlehen unerschwinglich teuren Ausbildung ihrer Kinder! – Das Land unserer Träume?

Doch zurück zum Sich-Hineindenken-in-Andere

Je vernetzter die Welt ist, je grösser die wirtschaftlichen und kulturellen – und auch religiösen – Differenzen in den rund 200 Ländern der Welt sind, und je mehr mit Fernsehen und den (neuen) Social-Media-Möglichkeiten Meinungen beeinflusst und Emotionen – vor allem auch mit Geld! – geschürt werden können, umso mehr müssen wir lernen, eine Situation nicht nur mit den eigenen Augen, mit dem eigenen Massstab, zu beurteilen. Wir müssen lernen, die Perspektive zu wechseln, uns in die Situation der «Gegenseite» einzufühlen – und einzudenken. Nur dieser Weg führt zu mehr Verständnis. Und nur besseres Verstehen birgt die Chance, künftig weniger Krisen und weniger Krieg zu haben.

PS: Die NZZ-Journalistin Andrea Kucera hat zum Problem des Sich-Hineindenkens der Deutschschweizer in die Perspektive der Romands einen bezaubernden Artikel geschrieben. Es lohnt, ihn zu lesen!


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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5 Meinungen

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 20.04.2014 um 11:42 Uhr
    Permalink

    Christian Müller hätte aus Dostojewski zitieren können: «Knechte uns, aber mach uns satt.» Ausser dem Bedürfnis nach Brot gibt es ausserdem noch das Bedürfnis nach Ordnung und Sicherheit, sodann nach Unterhaltung, nicht vergessen, auch an Ostern, das Bedürfnis nach dem Wunder. Über letzteres hat Südkurier Politredaktor einen hervorragenden Osterkommentar geschrieben, allerdings schon Karsamstag.

    Zur Bestätigung, dass Waffenfabrikanten sicher in ihrer Gefährlichkeit überschätzt und mit falschem Moralisieren eingedeckt werden, Theologen aber nach Popper und Karlheinz Deschner eher gefährlicher sind, gestern der schöne Hinweis von Patriarch Cyrill von Moskau, dass es aus kirchlicher Sicht zwischen Russland und der Ukraine noch nie eine Grenze gegeben habe und auch nie eine geben werde, in diesem Sinn wurde für die ukrainischen orthodoxen Mitchristen gebetet.

    PS. Es gibt auch Einheimische, zum Beispiel geschiedene und getrennte Männer, sicher auch Frauen, welche die Schweiz nach dem gleichen Prinzip zu bereisen pflegen wie die genannten chinesischen Touristen, in die man sich einzufühlen hätte.

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 20.04.2014 um 11:44 Uhr
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    PS. Der zitierte Südkurier-Redaktor mit dem hervorragenden Osterkommentar heisst Ulrich Fricker.

  • am 20.04.2014 um 19:03 Uhr
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    Der Egoismus der Menschen nimmt zu und so hat leider das Einfühlvermögen seinem Nächsten gegenüber keinen keinen Platz in dieser Welt. Wir leben in einer sehr gefühlskalten Welt, in der fast jeder nur noch mit sich selbst und seinen eigenen Probleme beschäftigt ist, da interessiert sein Gegenüber nicht mehr, da ist keine Zeit um mal richtg dem anderen Zuhören, über das gesagte ernsthaft Nachdenken und versuchen sich dem anderen hineinzudenken um versuchen den anderen zu Verstehen. Aber komisch dass genau diese menschen aber immer von den anderen erwarten, dass man auf sie eingeht und zu verstehen hat. Ja, es herrscht leider ein sehr grosser Mangel in der Menschheit sich dem anderen Eindenken. Aber Hauptsache der Mensch verlernt das Vorurteilen und das Richten über andere nie, denn darin sind viele wahre Genies bei über andere herziehen ohne zu wissen was dahinter steckt.

    Immer schön Distanz bewahren und niemals Zeit für Menschen haben, das ist der heutige moderne durchschnitt Mensch, der Angst vor Gefühle hat und darum sich niemals sich in jemand anderem hineindenken/einfühlen würde, denn, man könnte ja auf einmal sein Gegenüber verstehen.

  • am 20.04.2014 um 21:07 Uhr
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    Mangel an Mitgefühl und an Einfühlungsvermögen, macht gesunde soziale Interaktionen welche stabile Gruppen bilden um gemeinsam ihre Bedürfnisse in Kooperation zu erfüllen, nahezu unmöglich. Wer sich in andere nicht einfühlen kann, kann die anderen nicht wirklich verstehen. Menschen mit diesem segmentalen Autismus können auch nur schwer loslassen, leiden an Rachedurst, sind oft gegen ihren eigenen Willen sehr nachtragend. Gleichzeitig erwarten sie aber von anderen Mitgefühl, fordern aber somit etwas ein was sie selber meist nie geben können. Solche Menschen sind aussergewöhnlich oft in der Politik oder als Ceo’s von Grosskonzernen beschäftigt. Sie fühlen einfach nichts, wenn sie Todesurteile unterschreiben oder Massenentlassungen für eine Firma organisieren. Es ist eine Krankheit welche militärisch, wirtschaftlich und politisch sowie von Grosskonzernen genutzt wird für die Drecksarbeit. Menschen ohne Einfühlungsvermögen können sehr gefährlich sein.

  • am 23.04.2014 um 11:24 Uhr
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    Einfühlungsvermögen wäre so wichtig! Eine wahre menschliche Kulturleistung. Wäre! Einfühlungsvermögen müssten Eltern für ihre Kinder aufzubringen und ihnen so auch Einfühlungsvermögen in andere Menschen, andere Sitten und Bräuche nahe bringen. Einfühlungsvermögen bräuchte es dringend zwischen Menschen, in Familien, im sozialen Zusammenleben, in der Politik. Aber ach, der Mensch hat diese Fähigkeit vernachlässigt und ganz andere entwickelt.

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