Deutschland bildet Nato-Speerspitze

Jürg Müller-Muralt /  Deutschland verlässt allmählich den vorsichtigen Pfad der militärischen Zurückhaltung. Mit ungemütlichen Konsequenzen.

In Deutschland kämpfen zwei Prinzipien gegeneinander: die historisch bedingte, starke militärische Zurückhaltung und das deutlich stärkere Engagement innerhalb des Militärbündnisses Nato. Immer wieder musste sich Berlin von Bündnispartnern den Vorwurf des Pazifismus oder zumindest des mangelnden militärischen Einsatzwillens gefallen lassen. Die Ukraine-Krise gibt nun jenen Kräften Auftrieb, welche vom politisch und wirtschaftlich erstarkten Deutschland die ihm gebührende «internationale Verantwortung» einfordern. Vor allem die USA und die osteuropäischen Nato-Mitglieder drängen Berlin, und Bundespräsident Joachim Gauck ist innerhalb Deutschlands seit langem Wortführer dieser Haltung.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat bisher nichts unversucht gelassen, eine diplomatische Lösung oder zumindest eine Deeskalation des Ukraine-Konflikts herbeizuführen. Es wird jedoch immer deutlicher, dass Berlin auch militärisch einen Zacken zulegt. Bekannt ist, dass Deutschland, die Niederlande und Norwegen fürs erste die Federführung einer superschnellen Eingreiftruppe («Speerspitze») mit kleinen Stützpunkten in Osteuropa übernehmen. Die Kampftruppe wurde in der ersten Februarwoche von den Nato-Verteidigungsministern ins Leben gerufen. Die «Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung» (F.A.S.) weiss nun zu berichten, dass die Bundeswehr von April an in jedem Quartal eine Kompanie von Fallschirmjägern losschickt, um amerikanische Kräfte zu ergänzen, die schon im Frühling 2014 ins Baltikum und nach Polen verlegt worden waren.

Deutschland plötzlich auf dem Gaspedal

Die F.A.S. reibt sich verbal die Augen und berichtet unter dem Titel «Die Deutschen an die Front!» Bemerkenswertes zur Rolle von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen. Sie soll Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg bereits Mitte Januar ein klares Signal für Deutschlands Bereitschaft zu vermehrtem militärischem Druck gegeben haben: «Aus dem Gespräch mit Ursula von der Leyen wird ein Satz überliefert, der es in sich hat. ‚It`s payback time‘, soll sie zu Stoltenberg gesagt haben. Es sei jetzt Zeit für Deutschland, etwas zurückzugeben, nachdem es jahrzehntelang von der Solidarität der anderen Verbündeten profitiert habe. (…) Die Öffentlichkeit wusste nichts davon.» Die Verteidigungsministerin treibe hinter den Kulissen beharrlich voran, was sie für Deutschlands Pflicht halte: Mehr Verantwortung in der Welt zu übernehmen, lies: in der Nato. Und nochmals reibt sich die F.A.S. die Augen: Militärisch stehe Deutschland «plötzlich auf dem Gaspedal.»

Was man auch immer von den Ursachen und Hintergründen der Ukraine-Krise halten mag: Die Nato baut ihre Offensivpositionen gegenüber Russland unablässig aus. Erinnert sei etwa auch daran, dass auf dem Nato-Gipfel im September 2014 die Nicht-Nato-Mitglieder Schweden und Finnland ein so genanntes Host Nation Support Agreement unterzeichnet haben. Dies erlaubt es der Nato, selbst im Kriegsfall, Territorium und Infrastruktur wie Häfen, Flughäfen und Militärstützpunkte dieser Staaten zu nutzen. Schon vor längerer Zeit hat auch Georgien dieses Abkommen unterzeichnet.

Die aussenpolitische Online-Plattform «German-Foreign-Policy» kommt in einer Analyse zum Schluss: «Der neu erlangte Einfluss Berlins auf die ‚Speerspitze‘ lässt erkennen, wo Deutschland, sollten die Spannungen zwischen Russland und dem Westen weiter steigen, stehen wird – nämlich an der Spitze der Kampftruppen, die das transatlantische Kriegsbündnis gegen Moskau aufbietet.» Angesichts der historischen Erfahrungen ist das eine doppelt ungemütliche Vorstellung.


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Keine

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