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Mustafa Kemal Atatürk: 1923-1938 Präsident der Türkei © Ara Papian

Der historische Hintergrund zur Türkei

Atilay Ileri /  Aus historischer Distanz kommt die Wende in Richtung autoritärer Staat wenig überraschend. Die Demokratie steht auf dem Prüfstand.

Red. Atilay Ileri ist türkisch-schweizerischer Doppelbürger. Bis 2014 war er hauptberuflich Haftpflicht-Anwalt in Zürich. Seine Familie produziert in der Westtürkei seit vielen Jahren biologisches Epheser Olivenöl. Im Folgenden ordnet er die aktuelle in die historische Entwicklung ein.

Mit dem Beginn des Rückzugs des Osmanischen Reichs aus Europa Ende des 17. Jahrhunderts (Stichdatum der Friedensvertrag von Karlowitz von 26. Januar 1699) begannen auch die islamischen Gelehrten an der Staatsmacht des Reiches teilzunehmen, wie es bei den Christen nach dem Zusammenbruch des Römischen Reichs der Fall war, und Europa fast 1000 Jahre das finstere Mittelalter durchleben musste.
Mit der Zeit mussten die Fermane des Sultans, das waren Erlasse und Entscheide von staatspolitischer Bedeutung, auf ihre Korankompatibilität durch den obersten Islamgelehrten, Scheich-ül-islam, geprüft und genehmigt werden.
Die Jungtürken, meistens Söhne von massgebenden Istanbuler Familien und Paschas, die in Paris studiert und gelebt haben, versuchten den islamischen Einfluss zu verdrängen, aber auch den Sultan zu entmachten. Als Kemal Atatürk, selbst ein Nachzügler der Jungtürken, 1923 den Sultan vertrieb und die Türkische Republik gründete, hat er den Laizismus als einen der wichtigsten Leitgrundsätze in der neuen Verfassung festschreiben lassen.
Seine Reformen waren für die damalige Zeit eine Herkulesarbeit; so musste das Volk z.B. von einem Tag auf den anderen das arabische Alphabet aufgeben und mit lateinischen Buchstaben schreiben lernen. Die fast wörtliche Übernahme des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB), des Obligationenrechts (OR), des SchKG (Konkurs-und Betreibungsrecht) sowie des Prozessrechts des Kantons Neuenburg haben zwar eine forcierte Modernisierung des Lebens mit sich gebracht. Die Rechtsnormen des Korans mussten nicht mehr konsultiert werden.
Doch diese Reformen haben sich von oben nach unten, von Istanbul/Ankara/Izmir in die Anatolischen Provinzhauptstädte bewegt; sie kamen in den kleinen Städten und Dörfern nicht an.
Nach dem Tod von Atatürk hat eine dogmatisierte Verherrlichung des Kemalismus stattgefunden, ohne dass diese Kreise ihn und sein politisches Vermächtnis verstanden. Die von Atatürk gewünschte Wendung nach Westen blieb oberflächlich, weil die Kemalisten, ohne die historischen Wurzeln der europäischen Kultur zu hinterfragen, diese einfach kopierten und überhaupt nicht verstanden. Dafür behandelten sie das anatolische Volk als Bürger zweiter Klasse.
Seit 2001 haben nun die Anatolier die Staatsmacht inne. Der Laizismus steht zwar immer noch in der Verfassung, aber eine Hinwendung zu den alten kulturellen «Wurzeln» ist nicht zu übersehen. Die 700-jährige Vernachlässigung des anatolischen Bauern- und Handwerkerstands und die Sehnsucht dieser Volksschicht, ernstgenommen zu werden, bilden die soziopolitischen Grundlagen der gegenwärtigen Entwicklungen.
Die Türkei muss, geschichtlich betrachtet, diese schwere Prüfung durchmachen. Der Orient, der Islam, hat weder eine Reformation noch eine Aufklärung hinter sich. Berücksichtigt man dazu noch die gegenwärtigen Umwälzungen in der Medienlandschaft und der Kommunikationsmöglichkeiten, und die Manipulation des Wahlvolks durch die Medien und Politiker in der ganzen Welt, so ist eine nüchterne Beurteilung der heutigen Situation in der Türkei kaum möglich.
Hinzu kommt noch der Zusammenbruch der auf den Trümmern des Osmanischen Reiches gebildeten Staaten in willkürlich gezogenen Grenzen im Nahen Osten und die Versprechen der Westmächte vor und während des ersten Weltkriegs an die Völker der Region. Jeder will aus dem Kuchen des (Erdöl-)reichen Halbmondes einen möglichst grossen Teil für sich abschneiden.
Das erinnert an die über 200 Jahre dauernden Diadochenkämpfe nach dem Tod Alexander des Grossen im vierten bis in das zweite Jahrhundert vor Christus. Im Gegensatz zu jener Zeit mischen heute die Grossmächte USA und Russland mit und erschweren eine regionale Lösung der Hauptakteure unter sich. Es wird noch viel Blut der verführten und unschuldigen Menschen, vor allem der Kinder, fliessen, um das Paradies neu zu verteilen. Man fühlt sich – und ist – machtlos.

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3 Meinungen

  • Helmut_Scheben_310
    am 1.12.2016 um 12:04 Uhr
    Permalink

    Sehr lehrreich. Es ist nicht einfach, eine lange Geschichte in einer so kurzen Analyse treffend darzustellen. Merci
    Helmut Scheben

  • am 1.12.2016 um 14:56 Uhr
    Permalink

    In der Tat, in einem so kurzen Text, ein schwieriges Unterfangen! So greift z.B. zu kurz, heutige Zustände, wenn auch nur indirekt, der angeblich im Islam nie stattgefundenen Reformation und Aufklärung zuzuschreiben. Dazu etwas ausführlicher die Meinung der Geistes- und Kulturwissenschaftlerin Angelika Neuwirth.
    http://www.migazin.de/2013/11/21/die-behauptung-islam-aufklaerung/

  • am 2.12.2016 um 23:39 Uhr
    Permalink

    Danke für den interessanten Beitrag! Atatūrk hatte in einer beispiellosen Hauruck-Ūbung das arabische durch das lateinische Alphabet ersetzt. Bleibt zu hoffen, dass Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien nicht eines Tages in einer āhnlich identitātsraubenden Ūbung zur gānzlichen Ūbernahme der englischen Sprache verknurrt werden!

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