gobbi

Der Tessiner Regierungspräsident Norman Gobbi am Filmfestival in Locarno © Vimeo/TicinoToday

Das Tessin fühlt sich verlassen

Beat Allenbach /  Regierungspräsident Gobbi klagt vor versammelten Botschaftern den Bundesrat an, er überlasse das Tessin seinem Schicksal.

Es ist nicht neu, dass die Lega gegen den Bundesrat wettert, aber jetzt ist das Lega-Mitglied Norman Gobbi Präsident der Tessiner Regierung. Deshalb haben seine Worte ein anderes Gewicht. Die Probleme des Tessin – so Regierungsrat Gobbi – seien jene eines Landstrichs, der sich als «geopferte Zone» der Eidgenossenschaft fühle, eines Gebiets, das der Bundesrat bewusst aufgegeben und dem eigenen Schicksal überlassen habe. Er sagte das nicht an einer Wahlveranstaltung seiner Partei, sondern am Treffen von schweizerischen und ausländischen Botschaftern, das jeweils im Rahmen des Filmfestivals Locarno stattfindet.
An der harten Kritik stört sich kaum jemand
Eine derart vernichtende Kritik am Bundesrat war im Tessin meines Wissens noch nie von einem Mitglied der Regierung geäussert worden. Die Lega ist seit fünf Jahren stärkste Partei in der Regierung und entsprechend ändern sich Aussagen und Sprache. Aufschlussreich ist, dass sich im Tessin kaum jemand über die für den Bundesrat und die Eidgenossenschaft beleidigenden Worte öffentlich entrüstet hat – mit Ausnahme des Chefredaktors der Tageszeitung «LaRegione» und eines Luganeser Lokalpolitikers der SP.
Die Frage lautet: Hat der Bundesrat das Tessin tatsächlich vernachlässigt? Teilweise schon. Missbräuche häufen sich bei den sogenannten «ausländischen Dienstleistungserbringern». Das sind Personenkategorien, die durch das Abkommen mit der Europäischen Union über die Personenfreizügigkeit neu geschaffen worden sind. Es geht hier um die «padroncini», die selbständig Erwerbstätigen, und um die «entsandten Arbeitnehmenden», die für schweizerische und ausländische Firmen vorübergehend tätig sind. Da können italienische Abgaben und Steuern umgangen und Mindestlöhne stark unterboten werden, so dass korrekte Tessiner Unternehmer keine Chance haben. Weiter wird vor allem bei jenen Grenzgängern, die ausserhalb der traditionellen Branchen beschäftigt sind, Lohndumping betrieben. Infolge der Krise in Italien sind qualifizierte Grenzgänger bereit, für einen Monatslohn von 2000 bis 3000 Franken zu arbeiten. Einheimische Arbeitskräfte haben das Nachsehen. Sie werden entweder ersetzt oder erhalten keine anständig bezahlte Arbeit. Deshalb müssen zum Beispiel Tessiner Ingenieure in die deutsche oder die französische Schweiz ausweichen.
Seco beschönigt, Bundesrat bleibt untätig
Die dramatische Situation im Tessin hat das Staatssekretariat für Wirtschaft, Seco, stets ignoriert oder kleingeredet. Vor zwei Jahren wurde immerhin eine Arbeitsgruppe unter Leitung der Seco-Direktorin Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch gebildet, in der das Tessin als einziger und am stärksten betroffener Kanton vertreten war. Es wurden einige Massnahmen empfohlen, um Missbräuche zu verhindern, doch in der Vernehmlassung überwog die Kritik an den Vorschlägen. Zuerst sei die Masseneinwanderungsinitiative umzusetzen, war eine willkommene Ausrede.
Am 1. April dieses Jahres hat der Bundesrat beschlossen, vorerst auf wirksamere Massnahmen zum Schutz der einheimischen Arbeitnehmer zu verzichten. Einzig die Höchstgrenze für Bussen bei Missachtung der Vorschriften betreffend die ausländischen Dienstleistungserbringer wurde von 5000 auf 30’000 Franken heraufgesetzt. Erneut sah der Bundesrat trotz der besonders schwierigen Situation im Tessin keinen Handlungsbedarf. Das hat viele enttäuscht – auch den stets zurückhaltenden freisinnigen Ständerat Fabio Abate. Aufgebracht ist er zum Beispiel über das Verhalten der Seco-Direktorin, welche negative Auswirkungen der Personenfreizügigkeit nicht wahr haben will, aber gleichzeitig dem Kanton Tessin vorwirft, er hätte zur Durchsetzung der flankierenden Massnahmen mehr unternehmen können, wie Abate in einem Beitrag in der Tageszeitung «LaRegione» schrieb.
Unwürdige Stimmungsmache der SVP
Gleichzeitig ist zu erwähnen, dass im Tessin nie in einer gemeinsamen Aktion von Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften, Regierung und Parteien Druck auf die Arbeitgeber ausgeübt wurde, von Dumpinglöhnen abzusehen und Einheimische nicht durch billigere Grenzgänger zu ersetzen. Das Tessin ist weiterhin auf viele Grenzgänger angewiesen, denn ohne sie müssten etliche Bauunternehmen, Spitalabteilungen und Pflegeheime schliessen. Deshalb war es eine unwürdige Stimmungsmache, als die SVP die Grenzgänger als Ratten darstellte, die sich an einem (Tessiner-)Käse gütlich taten.
Zudem: Weder SVP noch Lega, haben je die Arbeitgeber kritisiert, welche Grenzgänger zu Hungerlöhnen einstellen und somit jungen oder arbeitslosen Tessinern keine Chance geben. Überdies sind es Bewohner des Kantons Tessin, welche «padroncini» wegen ihrer Billigstofferten ins Tessin rufen. Das alles blenden Lega und SVP sowie Regierungspräsident Gobbi aus. Seine heftige Kritik am Bundesrat vor den versammelten Botschaftern verliert deshalb an Schlagkraft.
Gobbi verlangt Strafregisterauszug von Ausländern
Norman Gobbi scheint sich in der Rolle zu gefallen, gegen Bern aufzubegehren. Er wird dafür von der Lega-Gratiszeitung «il mattino della domenica» vom 23. August als «Super Norman» gefeiert. Dort wurde eine Petition zu dessen Unterstützung in einem andern Konflikt mit Bern lanciert. Als Chef von Justiz und Polizei verlangt Regierungsrat Gobbi seit dem Monat April für jede neue Bewilligung von Grenzgängern und Jahresaufenthaltern einen Auszug aus dem Strafregister und eine Bescheinigung der hängigen Straffälle.
Das Tessin, das als einziger Kanton diese Dokumente verlangt, will damit verhindern, dass Kriminelle eine Aufenthaltsbewilligung erhalten. Italien sieht das als eine Schikane, unvereinbar mit der Personenfreizügigkeitsabkommen. Rom hat denn auch den Schweizer Botschafter in Rom ins Aussenministerium zitiert.
Inzwischen hat Regierungsrat Norman Gobbi die Aufforderung des Direktors des Staatssekretariats für Migration, Mario Gattiker, entschieden abgelehnt, auf die beiden zusätzlichen Dokumente zu verzichten. Im Bereich der Sicherheit und der öffentlichen Ordnung seien die Kantone souverän, und als Justiz- und Polizeidirektor trage er die Verantwortung, so Gobbi. Das Fordern der (erwähnten) Ausweise sei eine ausserordentliche und vorübergehende polizeiliche Massnahme, um die Sicherheit zu gewähren. Sie sei infolge schwerwiegender krimineller Ereignisse eingeführt worden, die sich im Tessin gehäuft hätten. Es gehe nicht darum, die Freizügigkeit einzuschränken, schrieb Gobbi. Eine Beurteilung dieser Massnahme werde im Herbst stattfinden, wenn objektive Daten und statistische Angaben zur Verfügung stünden.
Ob die Massnahme nützt, muss sich weisen
Polizeidirektor Gobbi beruft sich auf «schwere kriminelle Fälle», und in der Tat gibt es im Grenzgebiet immer wieder Überfälle und Wohnungseinbrüche. Nur in Ausnahmefällen sind die Täter Ausländer, die in der Schweiz arbeiten. Es sind vorwiegend ausländische Kriminaltouristen, die unerkannt über die Grenze kommen und Beute machen, die Aufsehen erregen.
Das Argument der Sicherheit ist gegenwärtig etwas schwächer als noch vor einigen Jahren. Der Jahresbericht der Tessiner Kantonspolizei für das Jahr 2014 weist gegenüber 2013 einen deutlichen Rückgang der Straftaten um 12,7% aus, einen Rückgang der Wohnungseinbrüche um 20% und ebenfalls weniger Gewalttaten. Die Pflicht, den Strafregisterauszug und eine Bescheinigung hängiger Straftaten dem Gesuch für eine Bewilligung als Jahresaufenthalter oder als Grenzgänger beizulegen, ist wohl eher dafür gedacht, die Öffentlichkeit im Tessin zu beruhigen. Da Gobbi selber die Massnahme als ausserordentliche und vorübergehende bezeichnete, besteht kaum Anlass für einen Prinzipienstreit um das Freizügigkeitsabkommen. Im Tessin hat Gobbis Beharren auf den zusätzlichen Dokumenten keine Diskussion entfacht. Handelskammer-Direktor Luca Albertoni schreibt auf Anfrage u.a., die Nützlichkeit der Massnahme müsse sich erst noch erweisen, doch scheine sie nicht unverhältnismässig zu sein und behindere die Unternehmen nicht fühlbar. Allfällige Auswirkungen auf Bundesebene müssten jedoch von den Politikern bereinigt werden.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.

4 Meinungen

  • am 26.08.2015 um 12:04 Uhr
    Permalink

    Immerhin auch mal ein Regierungsrat der Klartext spricht! Danke Herr Gobbi.

  • am 26.08.2015 um 13:01 Uhr
    Permalink

    @b. düggelin: Nein, der Hr. Gobbi hat eindeutig nicht Klartext gesprochen. Haben sie den Artikel überhaupt gelesen Frau lic.oec. HSG. Sollten sie eine Leseschwäche haben, ich bin nur 8! Jahre zur Schule, könnte es ihnen gerne erklären, da sie offensichtlich Probleme damit haben.

  • am 26.08.2015 um 13:23 Uhr
    Permalink

    @Vitto Charini, danke für Ihre Belehrung! Da muss ich Sie erst mal belehren, dass Sie mich mit Herrn ansprechen sollten. Beda Venerabilis wird für jeden gebildeten Menschen ein Begriff sein. Schauen Sie in Wikipedia nach oder fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker, vielleicht kann Ihnen auch ein Psychiater weiterhelfen. Und übrigens, auch auf Infosperber gilt Art. 16 der Schweizerischen Bundesverfassung, d.h. Meinungs- und Informationsfreiheit! Von Belehrungsfreiheit habe ich allerdings in diesem Bundesverfassungsartikel nichts gelesen…….

  • am 26.08.2015 um 18:39 Uhr
    Permalink

    Herr Gobbi hat Recht wenn er sagt dass der Bundesrat die Lage hier im TI sehr lange unterschätzt hat.Auch jetzt will er keine griffige Massnahmen ergreifen.Aber verantwortlich dafür im BR sind die bürgerliche Parteien,SVP inklusive…Beat Allenbach hat aber noch mehr Recht wenn er sagt dass Lega,SVP and die bürgerliche Parteien im TI sich weigern den Hauptübel des Dumpings zu bekämpfen….die Anstellungspolitik der Arbeitgeber,die die Lage schamlos ausnutzen,um die Löhne so zu senken,dass nur noch Grenzgänger diese dann akzeptieren…Es ist leichter und erträglicher auf Ausländer zu schiesen….

Comments are closed.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...