Mauer_Palstina

Die 8m hohe Mauer: Basis eines künftigen Friedens? © flickr/Oliver Blaise

Augenschein im besetzten Gebiet Palästinas

Christian Müller /  Eine Gruppe von Ärzten reiste in die Westbank, um sich ein persönliches Bild der dortigen Situation zu machen. Ein Reisebericht.

Israel hat die Atombombe bereits, der Iran soll sie nicht haben dürfen: Die Gefahr eines militärischen Konflikts zwischen Israel und Iran ist grösser denn je. Die Situation in und um Israel ist deshalb von zunehmendem und zu Recht weltweitem Interesse. Kritiker Israels sehen sich allerdings oft mit dem Vorwurf konfrontiert, die Situation – zum Beispiel in den von Israel besetzten Gebieten – mit eigenen Augen gar nie gesehen zu haben. Infosperber publiziert deshalb den Reisebericht einer deutschen Ärztin. Sie reiste als Mitglied einer Delegation der «International Physicians for Prevention of Nuclear War» IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges) und der «Pax Christi» nach Palästina, um sich vor Ort ein eigenes Bild der Situation machen zu können. – Hier der Reisebericht:

Erster Tag

»In der Westbank, dem von Israel besetzten Gebiet Palästinas, wohnen verstreut in Enklaven 1 Million Araber. Die Einwohner der Westbank werden von israelitischen Behörden auch «absentees», die Abwesenden, genannt. Dazu ein Palästinenser: «First we were denied access to our own land, then we were defined as «absent». Gesetze wie «Absentee Property Law» von 1950 und «Land Acquisition Law» von 1953 sind die juristische Grundlage für die Enteignung und Vertreibung von Palästinensern und Beduinen. Während Ministerpräsident Sharon noch von «occupied areas», von «besetztem Land» sprach, spricht der gegenwärtig amtierende Ministerpräsident Netanjahu von «disputed areas», von «umstrittenem Land».

Wir wohnten in Jerusalem im Hotel Ritz, das in der Nähe des Herodestores der Altstadt zum muslimischen Viertel hin gelegen ist. In der Altstadt führte uns ein dunkelhäutiger, vorzeitig ergrauter Palästinenser, dessen Gesicht freundliche Heiterkeit ausstrahlte. Am Schluss erfuhren wir, dass er 18 Jahre ohne Gerichtsentscheid von Israelis inhaftiert war. Bei ihm, wie bei den anderen Palästinensern, mit denen wir sprachen, spürte ich aber nichts von Hass. Hass macht krank und verhindert Lebensfreude, die die Palästinenser zwischendurch suchen und zum Überleben brauchen.

Auf einem Aussichtsplatz über Jerusalem sprach mittags eine etwa 30jährige israelische Jüdin zu uns. Sie arbeitet für «Israel Committee Against House Demolition (www.icahd.org). Schonungslos verglich sie die Lage der Juden im Holocaust mit der Lage der Palästinenser hinsichtlich Vertreibung, Demütigung, weitgehender Rechtlosigkeit und Restriktionen. Die Palästinenser zahlen zwar Steuern, aber die Müllabfuhr kommt nicht zu ihnen, ihre Straßen müssen sie selbst reparieren. Baroness Valerie Amos, Under-Secretary-General bei der UNO, schrieb 2011: «Palestinians are utterly frustrated by the impact of Israeli policies on their lives. They can’t move freely around their territory. They can’t plan their communities. They are evicted from their homes. Their homes are regularly demolished. I do not believe that most people in Israel have any idea of the way planning policies are used to divide and harass communities and families. They would not themselves like to be subjected to such behaviour.” (Die Palästinenser sind tief frustriert von den Auswirkungen der israelischen Politik auf ihr Leben. Sie können sich in ihrem Territorium nicht frei bewegen. Sie können ihre Gemeinschaften nicht mehr planen. Sie sind aus ihren Häusern vertrieben. Ihre Häuser werden regelmässig zerstört. Ich glaube, dass die meisten Menschen in Israel keine Ahnung davon haben, wie palästinensische Familien und Gemeinden durch die israelische Politik schikaniert und auseinandergerissen werden. Sie würden einer solchen Behandlung selber nie unterworfen sein wollen.»

Die junge Jüdin erzählte, dass sie von Kindheit an mit Holocaust-Gedenken überfüttert wurde. Ihr sei bekannt, wie das Hineindrängen in die Opferrolle zu Gewalttätigkeit führe, sagte sie.

Wir fuhren zum Dorf Anata, südlich von Bethlehem, in dem neben der Mauer in 200m Breite die Häuser zerstört worden waren. Mit Hilfe von Baggern entstand aus den Trümmern ein Berg. Wir besuchten eine Familie in einem löchrigen Zelt, deren Haus vor fünf Monaten zum 5. Mal zerstört worden war. Bei dem nächtlichen Überfall wurden ihr zum Räumen zehn Minuten Zeit gewährt. Da sie keine Baugenehmigung erhielt, hatte sie illegal wieder ein kleines Haus aufgebaut. Ein Esel war neben dem Zelt angebunden, obwohl es in den Steinen kaum etwas zum Fressen gab. In ihrer Armut sind viele Araber gezwungen, die Mauern der Besatzungsmacht selbst zu bauen, und auch die Siedlerstraßen, die ihr Land zerschneiden und die sie nicht benutzen dürfen, ja selbst die zahllosen Häuser israelischer Siedler. Es kommt auch vor, dass sie wegen eigener hungriger Kinder bewirtschaftete Gärten ihrer eigenen Leute mit dem Bulldozer niederwalzen: dies alles, um ein wenig Geld zu verdienen zum Überleben.

Am Abend hatten wir Kontakt mit englisch sprechenden Familien. Ich lernte eine Familie mit fünf erwachsenen Kindern in Beit Jala kennen. Die Älteste arbeitet als Kinderärztin an einem Krankenhaus in Tel Aviv und hatte sich Urlaub genommen. Sie erzählte von guter Zusammenarbeit mit ihren jüdischen Kollegen. Studiert hatte sie in Griechenland. Später will sie sich in Bethlehem niederlassen. Zwei Töchter sind als Lehrerinnen angestellt. Ein Sohn arbeitet als Fremdenführer in Bethlehem. Der jüngste, 22jährige Sohn erhielt 1999 in Essen eine Leber- und Nierentransplantation wegen dekompensierter Zystenleber und -niere. Dazu gab die Mutter eine halbe Leber, die Tante eine Niere. Diese große Operation wurde möglich durch Einsatz einer Kirchengemeinde, durch Johannes Rau und dank dem Chirurgen. Die weitere Lebenserhaltung über Klinikbesuche in Jerusalem und Medikation ist kompliziert und kostspielig und wird gemeinsam durch die Großfamilie finanziert. Trotz aller Schwierigkeiten ist die Familie immer wieder fröhlich und hat Hoffnung. Die Mutter müsste wegen Meniskusschadens eine Kniespiegelung haben, aber das übersteigt offensichtlich die familiären Möglichkeiten.

Zweiter Tag

Im Sumud-Haus wurde uns von der dortigen Erziehungsarbeit berichtet. Ein Frauenchor, griechisch-orthodox, in den traditionellen schönen Trachtenkleidern sang Glaubenslieder mit Begleitung von Tamburin und Trommel. Die Frauen tanzten und forderten uns auf mitzutanzen. Alle waren fröhlich. Um 12 Uhr wurde an der benachbarten Trenn-Mauer gebetet. Einige von uns beteiligten sich daran.

Die «Segregation Wall» wurde unter Sharon 2002 begonnen und ist über weite Strecken eine Betonmauer von durchschnittlich 8 m Höhe. Die ganze «Segregation Wall» ist eine doppelt angelegte Befestigung von 40-100 m Breite mit Drahtverhau und vielen Wachtürmen. Die in Oslo 1995 bestimmte grüne Linie hat in der Westbank eine Länge von 51 km. Die Mauer hat aber eine geplante Länge von über 750 km und kostet dem Vernehmen nach 3 Milliarden US $. Sie läuft also Zickzack auf palästinensischem Boden. Häuser von Palästinensern sind nur im Abstand von 250 m zur Mauer erlaubt. Politisch wurde die Mauer begründet mit Selbstmord-Attentaten. Sharon schrieb aber auch offen, dass sich in etwa 25 Jahren das Problem für die UNO mit den Arabern mit dem Zerstückeln der Westbank in immer kleinere Teile für die Araber und mit fortschreitender Besiedelung durch Siedler erübrigen werde. Jeder Ministerpräsident hat seit 1948 auf Groß-Israel bis Eilat am roten Meer hingearbeitet. Als Rabin sich der Menschenrechte besann, wurde er ermordet. Im westlichen Teil der Westbank sind bereits 107 Siedlungen fertiggestellt, im östlichen Teil 38 Siedlungen. Dazu gibt es im Westteil 60, im Ostteil 32 sogenannte Aussenposten. Die Grenzen Jerusalems haben zur Zeit eine Länge von 71 km. Die Planung läuft auf eine Länge von 245 km. Die entstandenen Ghettos sind der Willkür des Militärs ausgeliefert. Auf den Personalausweisen ist auch die Religion vermerkt, was zusätzliche Spannungen auslöst. So sagte z. B. ein Soldat zu einem Christen: «Ach, du bist Christ, das kostet dann die halbe Strafe.» Das Wasser kostet für einen Palästinenser viermal mehr als für einen Juden. Wenn ein Jude Siedler ist, kostet es nur einen Bruchteil. Deshalb ist es möglich, mit Preisvergünstigungen verarmte, arbeitslose Juden zu zwingen, in Siedlungen zu ziehen.

In Bethlehem ist die Mauer an einigen Stellen so zugänglich, dass sie bunt bemalt werden konnte. Dieses Stück ist zum Mauermuseum geworden. Themen sind die Sehnsucht nach Befreiung, nach wachsenden grünen Bäumen und Leben, Rütteln an Gitterstäben, Durchbrechen von Ketten. Auf einem Spruchband las ich: «Nakba», das Wort für die Katastrophe in der militärischen Niederlage der Palästinenser – «return, our destiny!», also «Rückkehr, unser Ziel!» Öffentliches Gedenken der Nakba ist verboten. Doch es gibt auch Humor: Ein Bild zeigt einen Soldaten, die Identitätskarte eines Esels prüfend, der vor ihm steht und wartet.

Am Nachmittag führte uns eine in Bonn aufgewachsene Palästinenserin durch Bethlehem und erzählte vom Leben in der arabischen Großfamilie. In der Geburtskirche bot uns ihr ebenfalls deutsch sprechender Sohn eine Führung. In einer armenischen Kirche sang ein Vater mit seinen zwei Kindern das Vaterunser in der Sprache von Jesus.

Dritter Tag

Unser Bus brachte uns wegen der für uns gesperrten Hauptstraße über einen großen, schwierig zu fahrenden Umweg nach Ramallah. Im Gesundheitszentrum Health Work Committee Palestine (www.hwc-pal.org) begrüßte uns der palästinensische Direktor, ein HNO-Arzt, der in Deutschland studiert und eine Deutsche geheiratet hatte. Wenn seine Frau nach Deutschland fliegen will, geht das nicht über das nahe Tel-Aviv, sondern nur über Amman, Jordanien. Erst nach jahrelangem Bemühen erhielt er den Pass für seine Heimat Palästina. Von diesem Zentrum aus werden trotz Grenzschwierigkeiten die palästinensischen Menschen der Streugebiete medizinisch versorgt, z.B. mit Impfungen. Dabei sind viel Einfallsreichtum und Geduld erforderlich. Politisch steht der Arzt links und sagt: »Alle, die sich sozial einsetzen, sind hier links.» Das Gesundheitsministerium in Ramallah hält er eher für eine Attrappe. Ein Parlament gäbe es nicht, da die in Gaza gewählten Parlamentarier alle gleich inhaftiert worden seien, und im Ministerium säßen Spione. Mittags besuchten wir das Krebszentrum für Frauenkrankheiten, das medizinisch ebenfalls einen guten Eindruck machte. Der Arzt zeigte uns das Denkmal für den Dichter und Autor Mahmoud Darwish (1941-2008), der als Sprecher im Widerstand gegen die Besatzung und Vertreibung mit großem Gedenkstein, einer Informationshalle und Parkanlage, geehrt wird. Am Nachmittag fand ausserdem ein interessanter Gesprächsaustausch mit sieben Kommunalpolitikern statt. Sie haben sich auf lange Geduld und Verhandlungssuche eingestellt.

Vierter Tag

Zu sechst fuhren wir nach Bili’n. Mit furchtlosem, gewaltlosem Widerstand kämpfen dort die Dorfbewohner seit sieben Jahren gegen die illegale Landnahme ihres Berges, auf dem in 2 km Länge entlang der Mauer ihre Ölbäume stehen. Sie klagten gegen die erfolgte Landnahme und bekamen in Erster Instanz Recht, das ihnen in der Zweiten Instanz wieder genommen wurde. Jeden Freitag um 12 Uhr gibt es entlang der Stacheldrähte eine Demo von 30 bis 50 Personen, unterstützt von Besuchern des Landes und von jüdischen Israelis. Der junge Familienvater, der uns in seinem Haus mit Tee bewirtete, erzählte, wie sich die Widerstand-Leistenden an einem Tag auf die Straße vor einen Lastwagen legten, mit dem Siedler die Grenze überfuhren und wie er die Rufe «kill them», «töte sie» hörte. Der Fahrer fuhr aber nicht weiter vorwärts. Das Stück Land, das sich die Siedler aneignen wollten, wurde zurückgegeben.

Der Bauer ging mit uns zum Zaun. In der Mittagshitze gaben die Olivenbäume schönen Schatten. Aber die Bäume nahe dem Zaun waren heruntergebrannt. Einer qualmte noch, und das erinnerte mich schmerzlich an die heruntergebrannte israelitische Kuranstalt im November 1938 in Bad Soden, meinem Heimatort. Ich nahm eine der zahllosen, auf dem Boden verstreuten Tränengasgranaten in die Hand. Diese haben einen kleinfingerlangen schweren Metallteil, der tödlich treffen kann. Unser Gastgeber hatte auf seinem T-Shirt den Kopf eines so Getöteten abgebildet. Auch bemerkte ich unterwegs viele Stümpfe der von Siedlern gefällten Ölbäume. Das bedeutet symbolisch viel, denn für beide Seiten gilt der Ölbaum fast als heilig.

In Beit Sahour hörten wir beim CVJM über die seelischen Traumata durch Gewalt. Bewegend war für mich ein ökumenischer Messgottesdienst von «Pax Christi» in einem engen Tal Bethlehems, das von einer Straße für Siedler durchschnitten ist und vor ihrer Einmündung in einen Tunnel durch den Berg auf einer Strecke von ca. 100 m ein Blechdach hat. Auf beiden Höhenseiten weideten Schafe. Die Mauer war in unserem Blick. Am Abend berichtete ein Mann von Parent’s Circle. Da treffen sich Menschen beider Seiten, die durch Gewalt Angehörige verloren haben. Der Mann sagte: «We are not slaves!», «Wir sind keine Sklaven!»

Fünfter Tag

Wir fuhren zu den Teichen Salomos, den uralten Bewässerungssystemen, die bis nach Jerusalem führten. Dann ging es weiter in ein enges Tal mit fruchtbaren Gärten und einem Kloster. Man stellte sich vor, an diesem Ort sei das Hohe Lied im alten Testament entstanden. Nachher besuchten wir ein altes arabisches Dorf, Artas, in dem uns tanzende Jungens mit sehr gekonnten, schwierigen Tanzsprüngen nach alter Musik und Tradition erfreuten. Ein typisch arabisches Mittagessen wurde uns serviert. Da wir noch nicht gelernt hatten, Hühnchen und Gemüse mit den Fingern zu essen, bekamen wir Suppenlöffel. Weiter ging es zum Haus der Arab Reporters for Investigation Journalism ARIJ (www.arij.org). Wir wurden über «die Segregation Wall» und die Vertreibungspolitik, die eine eigene Staatsbildung unmöglich machte, informiert.

Der nächste Besuch galt dem Health Center in Beit Sahour, einer Tagesklinik unter der Leitung eines in Deutschland ausgebildeten Urologen. Er musste jahrelange Regierungshindernisse überwinden, um sich in seiner Heimatstadt beruflich niederlassen zu können. Der Aufbau einer Tagesklinik wurde ihm verweigert. Aber er konnte im Haus einer katholischen Convent-Einrichtung arbeiten. Im Volk heißt die Klinik Conventklinik. Seit 2004 ist dort ärztliche Ausbildung gestattet. 2007 durfte ein urologischer Fachverband gegründet werden. Eine französische Rheumatologin kommt alle zwei Monate für eine Woche aus Brüssel und arbeitet ehrenamtlich im Health Center. Akademiker in Palästina sind schlecht gestellt. Ein palästinensischer Straßenreiniger in Jerusalem verdient dreimal mehr als ein Dozent in Bethlehem.

Sechster Tag

Fahrt zur Stadt Qalqilia. Sie liegt in der Nähe der «grünen Linie» und ist wasserreich. Schon in 10 m Tiefe stößt man auf Grundwasser. Die Agrarwirtschaft blühte vor der Besatzung und die vielen Einwohner besorgten außerhalb der Stadt ihre Ländereien. Die Israelis ließen eine Mauer rings um die Stadt bauen zur völligen Wasserkontrolle. Nur im Osten gibt es einen Zugang über Checkpoints. Entlang der Mauer wurde die Vegetation vernichtet. Bei den dortigen reichlichen Regenfällen im Winter staut sich das Wasser an der Mauer und überflutet. Das Wasser muss aber bei der Besatzung gekauft werden. Ein Siedler darf 300 Liter Wasser pro Tag verbrauchen, ein Palästinenser 17 Liter. Die Bewirtschaftung der Felder außerhalb der Stadt wurde stark eingeschränkt. Um bei Israelis zu arbeiten, passieren jeden Tag 6000 Stadtbewohner in knapper Zeit die Sperren mit Eisengittern, Passkontrollen und Durchleuchtung.

Wir fuhren nach Hebron, wo nach biblischer Überlieferung Abraham für seine verstorbene Frau Sarah eine Höhle zum Begräbnis kaufte und dann selbst dort begraben wurde. Diese Stelle wurde für Juden, Christen und Muslime bedeutsam. Christen errichteten dort einen hohen, sakralen Bau, den Muslime in eine Moschee umbauten. Im Zentrum der Stadt leben heute 45’000 arabische Einwohner. Jetzt gibt es dazu auch 700 Siedler, die sich gleich an sechs Stellen in der Stadt niedergelassen haben, auch in der Hauptbasarzone. 1500 Soldaten und Soldatinnen beschützen die Siedler, die ihrerseits meist Schusswaffen haben. Sie beanspruchen einige Straßen ganz für sich, einige zu drei Vierteln, d.h. für die Araber bleibt noch ein Gehweg. Wehe dem Jungen, der die trennende Betonbarriere auf einer geteilten Straße überspringt. Wo Straßen ganz den Siedlern gehören, sind die Haustüren zu den arabischen Häusern plombiert. Wir sahen, wie die Palästinenser von hinten über Eisenleitern durch ein Fenster in ihr Haus gelangen. Junge und Sportliche springen mit einem Satz durch das Fenster. Aber da war auch eine 50-60jährige Frau, die als Letzte die Leiter hochstieg. Sie konnte nur auf den Knien über das Fensterbrett in ihre Wohnung hineinkriechen. Dieser Anblick hat sich bei mir tief eingeprägt. Alte und Behinderte können das Haus nicht mehr verlassen.

Vor dem Bau des Abraham-Grabes gab es Personen- und Gepäckkontrolle durch Bewaffnete. Im Vorraum zogen wir die Schuhe aus und betraten den muslimischen Teil. In einer Gebetsecke knieten etliche junge muslimische Frauen in Weiß zum Gebet. Dort war die Stelle, an der vor ein paar Jahren der Arzt Dr. Goldstein viele betende Männer niederschoss. Als er nachladen musste, wurde er mit einem Kerzenständer erschlagen. Von Siedlern wurde er mit einem Schrein besonders geehrt.

Siebter Tag

Wir fuhren nach Nahalin, einem Weingut in 950 m Höhe, bekannt durch das Zelt der Nationen und den Widerstand des Besitzers gegen die Enteignung seit 1991. Der Besitzer konnte mit Dokumenten den rechtmäßigen Erwerb durch den Großvater nachweisen. Die Erste Instanz gab ihm Recht, die Zweite Instanz hob das Recht auf. Die Prozesskosten sind immens, ebenso die ständig neuen Schikanen. Die Straße vor dem Anwesen wurde z. B. aufgerissen, mit Felsbrocken blockiert, sodass unser Bus halten musste und wir zu Fuß passierten. Mit internationaler Hilfe und mit enormer eigener Beharrlichkeit und Friedfertigkeit hat der Besitzer bis jetzt durchgehalten. Seine Tochter hat auf ihrem T-Shirt stehen: «still undefeated», «noch immer unbesiegt». Vor dem Haus steht ein mehrsprachiges Schild mit dem Text «Wir weigern uns, Feinde zu sein». Damit es Strom gibt, wurde eine Solaranlage gespendet. Die Wasserleitung wurde von der Besatzung blockiert und der Zisternenbau verboten. Zur Sammelstelle für die Weintrauben muss der Besitzer einen großen Umweg fahren. Es kam vor, dass ein Soldat den beladenen Traktor anhielt, die Kennkarte anforderte und diese so lange in seiner Tasche behielt, bis die Trauben in der Hitze verdarben. Aber es kam auch vor, dass ein Siedler seinen Nachbarn entdeckte und Zeichen der Freundschaft setzte. Englische Juden spendeten Ölbäume zum Ersatz für die vielen im Hass zerstörten. Außer finanzieller Unterstützung aus dem Ausland kommen auch Helfer und Gäste. Mehrsprachig sind die Ziele der Familie zu lesen: «Friede, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung». Natürlich ist nicht jeder Soldat ein Quäler. Manchen gehen im Militärdienst auch die Augen auf.

Achter Tag

Ausflug in einem großen Bus mit unseren palästinensischen Freunden zum Toten Meer. Der Fahrer musste abenteuerlich enge, steile Kurven bewältigen, denn die bequeme Straße war für uns gesperrt. In Jericho geht es mit der Seilbahn in moderner Geschäftigkeit auf den Berg der Versuchung Jesu. Weiter fuhren wir zu den Ausgrabungen des Hisham-Palastes und zum Toten Meer, dessen Wasser in Schönheit glänzt. Wir machten Halt an einer gemeinsamen Badestelle für Juden, Araber und Ausländer. Südlich davon gibt es einen Strand «for jews only», «Nur für Juden». Das Wasser, in das wir mit dem Rücken eintauchten, hat neben dem vielen Salz viel grauen Schlick. Für Hautkrankheiten und Rheuma ist es hilfreich. Die Leute haben Spaß. Die Duschen haben genug Wasser zum Abspülen. Gemeinsam mit den Freunden wurde der Abend fröhlich wieder mit Singen und Tanzen beschlossen.

Neunter Tag

Wir besuchten israelische Ärzte für Menschenrechte in Jaffa und erfuhren von ihren Mobilkliniken zu palästinischen Dörfern. Der Besuch in Gaza ist durch Planungsschikanen erschwert und nur zweimal jährlich möglich. Die ärztliche Unterversorgung ist dort besonders schlimm. Es wurde berichtet, dass es in der Westbank Siedler gibt, die je nach Wind giftigen Müll neben arabischen Häusern verbrennen und dass auch giftiges CS-Gas gegen Demonstranten eingesetzt wird.

In Jerusalem konnten wir einen Altstadtbummel machen. Die zunehmende Vereinnahmung arabischer Häuser ist offensichtlich. In meinem Zimmer im Hotel Ritz hing das Bild eines arabischen Lastenträgers von 1905, der mit Stirnband zwei riesige Reisekoffer auf dem Rücken schleppt.

Zehnter Tag

Am Morgen betrachtete ich auf der Dachterrasse die Berge ringsum, sah den Ölberg und dachte an 1989. Damals stieg unsere Reisegruppe diesen Berg hinunter und in der Franziskanerkapelle «Dominus flevit», deutsch, der Herr hat geweint, reichte mir unser Reiseführer einen deutschen Text von Lukas 19, 41-44 zum lauten Vorlesen: »Deine Kinder werden zerschmettert werden, du hast die Zeit der Gnade nicht erkannt». 1,4 Millionen Kinder wurden in der Nazizeit ermordet. Ich schaute auf die Stadt und dachte: «Jesus kann wieder weinen; ebenso über die Zustände in Deutschland oder über Mächtige von Rio mit ihrem Versagen bei der Konferenz. Es sind die Leute «unten», in denen das Reich Gottes weiterlebt. Dazu gehören Juden und Araber, die uns in ihrem Widerstand gegen Böses ermutigen und die an der Hoffnung festhalten, sich aufrichten und trotz allem noch freuen können.

Ein Rabbi von den «Rabbis für Menschenrechte», eine Gruppe, die es seit 64 Jahren gibt, hielt uns im Hotel einen Vortrag. Er betonte: «Der Mensch ist zum Bilde Gottes geschaffen, nicht zum jüdischen Bild. Gerechtigkeit und Gesetz sind in der Tora dasselbe. «But we will win, win!» Das Ziel dieser Rabbis ist Freiheit, Gerechtigkeit, Friede. Doch im Land Israel herrscht zunehmend Verarmung und Abbau der sozialen Leistungen.

Bei einem Besuch im Büro des Palestine Israel Journal of Politics, Economics, Culture (www.pij.org).führten ein im Kibbuz aufgewachsener Israeli und ein Araber einen Dialog. Der Israeli stellte seinen Partner als «cousin» vor. Eine intellektuelle Minderheit bezieht die Veröffentlichungen der Organisation. Die Regierung kann sie gewähren lassen, denn die Mehrheit sieht weg, schweigt zur Besatzungspolitik und wählt aus Angst rechts, die «Sicherheit». Ein Verbot der pij würde diese nur noch bekannter machen.

Zum Schluss fuhren wir zum Friedensdorf Wahat al Salam/ Neve Shalom. In der Nacht gab es einen erstmaligen Überfall von Rechtsradikalen auf das Dorf mit Zerstechen von vielen Autoreifen, vor allem bei Arabern. Am Schulhaus stand der gesprühte Text: «Tod den Arabern, Rache, wir unterstützen die Siedler.»

Elfter Tag

Abschied nach all diesen Eindrücken mit Auf und Ab in unseren Gemütern! Wir kamen gut durch die langwierige Flughafenkontrolle.

Ich habe mit einer Auschwitz-Überlebenden über meine Eindrücke gesprochen. Sie empfindet einerseits Abwehr gegen Groß-Israel und bedauert auch die Palästinenser. Andrerseits sind in ihrer Vorstellung Gründe für die heutige Situation vorrangig, so etwa der weltweite Hass gegen Juden, die Selbstmordattentate der Araber, die Raketen auf Südisrael mit Bunkerdasein, die Drohungen von Hamas-Anhängern, Angst und Sicherheitsverlangen.

Ungerechtigkeit und Gewalt sind keine Wege zum Frieden. Frieden muss gewagt werden über Dialog. Niemand ist nur böse. Deutschland macht sich schuldig mit seinem Schweigen zu diesem Konflikt. Das Argument, «wir mit unserer Vergangenheit haben nicht das Recht zu öffentlicher Kritik» überzeugt mich gerade als Deutsche nicht. Wahrscheinlich steht Geschäftsinteresse der Politiker im Vordergrund bei ihrem Schweigen. Ich selbst bemühe mich seit 50 Jahren, die israelisch-jüdische Seite kennenzulernen.»

Bad Soden, 26.6.12
Dr. Dietmut Thilenius

Die Autorin zur Organisation der Reise: »Organisiert wurden unsere Begegnungen in Palästina von einem christlichen Araber in Bethlehem, im «Sumud Story House», im nahe der Mauer gelegenen Arab Educational Institute. «Sumud» steht für Beharrlichkeit, Gelassenheit, Versöhnungsbereitschaft. Dieses Haus wird von «Pax Christi» unterstützt. Unsere Reiseleiterin R. W. arbeitet bei «Pax Christi» in München. Von dem IPPNW-Vorstand war S. F. mit dabei. In Team-Arbeit waren die etwa 20 Arbeitsgespräche mit Arabern und jüdischen Israelis aus vielerlei Berufsgruppen vorbereitet worden.»

Literatur-Empfehlung:

Zur Situation der Palästinenser in den von Israel besetzten Gebieten empfiehlt sich die Lektüre des Buches: Karin Wenger: Checkpoint Huwara; Israelische Elitesoldaten und palästinensische Widerstandskämpfer brechen das Schweigen. Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2009. Karin Wenger lebte mehrere Jahre in Westjordanland, war freie Korrespondentin der NZZ aus dem Nahen Osten und arbeitet jetzt als Korrespondentin von Schweizer Radio DRS in Neu-Delhi.

Wer eine Reise in die besetzten Gebiete Palästinas machen möchte, greife zu einem Reiseführer, der speziell auch diesen Gebieten gewidmet ist: Burghard Bock / Wil Tondok: Palästina. Reisen zu den Menschen. 244 Seiten. Reise Know-how Verlag Tondok, München 2011. www.tondok-verlag.de


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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Atommacht Israel und ihre Feinde

Teufelskreis: Aggressive Politik auf allen Seiten festigt die Macht der Hardliner bei den jeweiligen Gegnern.

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Eine Meinung zu

  • am 25.08.2012 um 12:11 Uhr
    Permalink

    Die Bildillustration erinnert den Menschen verachtenden «eisernen Vorhang» aus dem letzten Jahrhundert. Ob bei der offiziell von Israelis als «Zaun» bezeichneten Anlage auch Selbstschussanlagen und Minen installiert wurden?

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