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Ausschnitt des Buch-Covers © stämpfli verlag

Peter Achten aus Peking: «So war mein Alltag»

Red. /  Die rasante Entwicklung Chinas hat der Korrespondent während Jahrzehnten hautnah erlebt. Jetzt bleibt das Heimweh nach Peking.

Red. «Die Welt ist nicht mehr so, wie sie einmal war», schreibt Peter Achten in seinem neuen Buch «Abschied von China». 1986 kam er als Zeitungs- und Radiokorrespondent in die chinesische Hauptstadt. Sein flüssig geschriebener Rückblick vermittelt ein differenziertes Bild des aufstrebenden Reichs der Mitte. Der heute 77-jährige Achten wird weiterhin vorwiegend in Asien leben sowie über China und Asien berichten. Der folgende Buchausschnitt gibt einen Einblick in Achtens Alltagsleben in Peking.

Das Frühstück bei Frau Chen auf der Strasse
Die sanfte Landung nach über zehnstündigem Flug in Zürich-Kloten bringt einen abrupt von der Zukunft in die Gegenwart. Natürlich ist es heute leicht, hin und wieder kurz nach Peking, nach China zu reisen. Doch der Zürcher Nieselregen am Tag der Landung erinnert schmerzhaft daran, dass Peking – einmal die Zelte abgebrochen – bei einer temporären Rückkehr in einem Hotel eben nicht mehr «zu Hause» ist.
Kaum wenige Stunden nach dem Abschied vermisse ich bereits vieles von meinem während langer Jahre eingeübten Pekinger Alltag. Angefangen mit dem Frühstück auf der Strasse. Frau Chen fritierte im siedenden Öl Teigstangen. Diese Youtiaos schmeckten fast so herrlich wie einst zu meiner Korrespondentenzeit in Madrid die ebenfalls fritierten, aber etwas luftigeren Churros. Frau Chen bereitete auch die besten Baozi von ganz Peking, nein, von ganz China zu, also grosse runde Dampfbrötchen, gefüllt mit Gemüse oder Schweinefleisch. Dazu heisse Soyamilch.
Auch Zeitungsverkäufer Xiao Wang vermisse ich bereits am Bahnhofkiosk im Zürcher HB. Herr Wang stand im eisigen Winter genauso wie im heissen Sommer in seinem behelfsmässigen Kiosk an der U-Bahn-Station Yong Anli, immer freundlich und bereit für ein kleines Schwätzchen über Buddha und die Welt oder die Regierung und Partei – er sagte «die da oben» –, selbst in der Rushhour. Xiao Wang kannte meine Vorlieben, machte mich aber immer wieder auf einen interessanten Titel oder einen ungewöhnlichen Artikel in der Parteipresse aufmerksam.
Meine Coiffeuse, eine Migrantin, ermöglicht ihrem Sohn ein Studium
Auch der im orangefarbenen Überkleid arbeitende Strassenwischer Meng im Quartier von Jian Wai Soho sowie mein langjähriger Fahrradmechaniker Zhu prägten meinen Pekinger Alltag positiv . Bei dieser Aufzählung von Laobaixings – sogenannten Durchschnittschinesen – darf auch meine Coiffeuse Frau Yu nicht vergessen werden. Sie arbeitet nahe der Jiangoumen-Brücke am Strassenrand. Sie ist – auf Europäisch ausgedrückt – eine illegale Migrantin aus der Provinz Henan. In Peking ist sie nur geduldet, doch an ihrem Standort in einer kaum befahrenen Seitenstrasse nahe des zweiten Rings bedient sie auch Polizisten der umliegenden Posten. Seit Jahr und Tag offenbar zur vollen Zufriedenheit, denn sonst wäre sie längst wieder zurück in ihrer Heimatprovinz. Mit ihrer virtuosen Handhabung der Schere hat Frau Yu Tag für Tag, sommers wie winters, Geld verdient und damit ihrem Sohn ein Studium an der Eliteuniversität Beida in Peking ermöglicht.
Die Geduld meines Chinesischlehrers
Liu Laoshi, meinen verehrten Chinesischlehrer seit Jahrzehnten, werde ich besonders vermissen. Der hoch gebildete Liu hat sich redlich bemüht, dem Ausländer aus der Schweiz die chinesische Sprache und Kultur näherzubringen. Mit durchzogenem Resultat. Doch Liu hat die Geduld nie verloren. Liu Laoshi war nicht nur gebildet und von Aristoteles über Konfuzius bis hin zu Zoroaster, Karl Marx oder Mao Zedong belesen, sondern kannte die ganze Welt.
Während Jahren hat er als Kurier des Aussenministeriums den Globus bereist und kennt deshalb auch die Schweiz, das heisst vor allem Bern vom Zytgloggeturm bis zur chinesischen Botschaft am Kalcheggweg. Doch der Schweizer Bezug geht noch weiter. Während des Koreakrieges (1950–1953) war Liu in Korea stationiert und kam als Englischdolmetscher mit der neutralen Überwachungskommission des Waffenstillstands – mit Schweden, Polen, Tschechoslowaken und eben auch Schweizern – in Kontakt.
Bei Liu lernte ich viel, zuvorderst Chinesisch, etwas weniger gut chinesische Schriftzeichen. Doch unsere frühmorgendlichen Lektionen erschöpften sich nicht nur im Unterricht. Wir diskutierten auch leidenschaftlich. Liu Laoshi zusammen mit den bereits erwähnten Laobaixings waren wichtige Quellen meiner journalistischen Arbeit.

Gesprächspartner musste stets Berichte abliefern
Als Journalist pflegte ich natürlich auch mit chinesischen Intellektuellen und Künstlern Umgang. Mitte der 1980er Jahre war das noch relativ kompliziert. Wie mir ein Redaktor einer renommierten Tageszeitung für die Intelligenzija damals erklärte, musste er bei jedem Treffen mit mir einen Bericht über Verlauf und Inhalt unserer Gespräche abliefern.
Kontakt bis auf den heutigen Tag hatte ich auch mit Studenten, die 1989 aktiv an den Arbeiter- und Studentenunruhen auf dem Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens Tiananmen teilgenommen hatten. Einige sind inzwischen emigriert, einige landeten im Gefängnis und führen heute ein unauffälliges Leben als Angestellte, andere wiederum sind erfolgreiche Kleinunternehmer geworden. Viel verdanke ich meinen Künstlerfreunden.
Freundschaft mit dem Maler Zhu Wei
Vor dreissig Jahren machte ich das erste Interview mit dem Maler Zhu Wei. Er war damals 21 Jahre alt, malte in seiner kleinen Einzimmerwohnung im Pekinger Haidian-Distrikt. Heute ist er international bekannt, aber bescheiden und alert geblieben.
Ähnliches lässt sich von den Malern, Konzeptkünstlern und Architekten Ai Weiwei, Zhen Xuewu und Yin Kun sagen. Ohne ihre Freundschaft hätte ich wohl Chinas Gegenwart, Vergangenheit und Kultur noch weniger verstanden.
Auch mit Journalisten hatte ich natürlich viel Kontakt. Obwohl immer noch unter der Fuchtel der Partei, sind die Medien in den Reformjahren offener und lebendiger geworden. Dank der Journalistenfreunde war ich über den neuesten Stand immer bestens informiert. Ich wusste also jeweils, woher der ideologische Wind wehte, insbesondere dann, wenn für Journalisten und Redaktoren – wie 1989 – die Zeiten volatil und die Lage vergleichsweise ungemütlich wurde.
Chen Weixian, bereits in jungen Jahren leitender Redaktor eines Wirtschaftsmagazins, ist für mich nicht nur Freund, sondern vor allem zum Exempel der jungen, mutigen und optimistischen Generation Chinas geworden.
Neugier und Gastfreundschaft im Hinterland
Am meisten lernte ich wohl von den einfachen Leuten. Ich traf sie überall, sie waren in der Regel offen gegenüber Ausländern, neugierig und freundlich. Während vor dreissig Jahren der Waiguoren – der Ausländer – noch als Exot wahrgenommen wurde, hat sich das heute in den Grossstädten total verändert. Man gibt sich wie anderswo in Megalopolis kosmopolitisch. Die Bauern im Hinterland dagegen haben sich ihre Neugier bewahrt. Sie waren und sind nicht nur die gastfreundlichsten, sondern auch die offensten Chinesen und Chinesinnen, denen ich begegnet bin.
Vielfältiges Heimweh
Endgültiger Abschied also? Mitnichten. Das Leben ist eine Abfolge von Ankunft und Abschied. Zumindest in meinem nach Stationen reichen Nomadenleben. Heute habe ich in Wien Heimweh nach Estavayer-le-Lac, in Estavayer-le-Lac nach Peking, in Peking nach Hanoi, in Hanoi nach Georgetown in Washington D.C., in Georgetown nach Fribourg, in Fribourg nach Caracas, in Caracas nach Bern, in Bern nach Madrid, in Madrid nach Zürich, in Zürich nach Hongkong oder in Hongkong nach meinem Geburtsort Kleinbasel.
Da Kleinbasel schon fast zum benachbarten Elsass gehört, ist mir das Schicksal vom Hansdampf im Schnoggeloch von früher Jugend an vertraut. Und mit meinem permanenten, süsssauren Heimweh fühle ich mich dem Hansdampf sehr nah:
Dr Hansdampf im Schnoggeloch hett alles, was er will,
und was er hett, das will er nitt,
und was er will, das hett er nit,
dr Hansdampf im Schnoggeloch hett alles, was er will.
Dr Hansdampf im Schnoggeloch, goht ane, wo ner will,
und wo ner isch, dert bliibt er nitt,
und wo ner bliibt, do gfallts em nitt,
dr Hansdampf im Schnoggeloch goht ane, wo ner will.
———

Das Buch «Abschied von China», Stämpfli Verlag 2016, können Sie hier bestellen.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Peter Achten schreibt u.a. für Infosperber regelmässig über die wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung in China und benachbarten Ländern.

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