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Untersuchungsbericht bestätigt Verabredungen zur Gewalt in Chemnitz. Die «Weltwoche» schweigt. © cc

Hetzjagden in Chemnitz: Die «Weltwoche» im Abseits

Tobias Tscherrig /  In Chemnitz habe es keine Hetzjagden auf Ausländer gegeben, so die «Weltwoche». Neue Entwicklungen hat das Blatt bisher ignoriert.

26. August 2018, Chemnitz: Am Rande des Chemnitzer Stadtfestes wurde der 35-jährige Daniel H. erstochen. Gemäss einem Urteil des Landgerichts Chemnitz war der Täter ein syrischer Flüchtling. Obwohl das Opfer deutsch-kubanischer Abstammung war und mit Rechtsradikalismus nichts am Hut hatte, wurde die Tat für rechtsextreme Gewalt instrumentalisiert. So löste der Mord Demonstrationen und rassistische Übergriffe aus, die Bilder des hasserfüllten Mobs gingen um die Welt.

Im Anschluss an die Ausschreitungen wurde die Frage, ob es in Chemnitz zu Hetzjagden auf Ausländerinnen und Ausländer gekommen war, zum Politikum und zur Zerreissprobe für die grosse Koalition aus Union und SPD. Der damalige Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maassen, bezweifelte die Authentizität eines Videos, das die Verfolgung von Ausländerinnen und Ausländern protokollierte – schliesslich musste er seinen Posten räumen.

Für die «Weltwoche» ist der Fall klar
Obwohl die Frage nach den «Hetzjagden» noch immer umstritten ist, publizierte Roger Köppel in seiner Funktion als Chefredaktor und Verleger der «Weltwoche» zahlreiche Textpassagen, die allesamt nur einen Schluss zulassen: In Chemnitz hat es keine Hetzjagden gegeben.

Einige Auszüge aus den Texten von Köppel:

  • «Was immer auf diesem Videofilmchen von ein paar Sekunden zu sehen ist – es ist keine Menschenjagd, und schon gar nicht sind es Menschenjagden im Plural, wie Merkel die Botschaft dieser Aktivistenpropaganda im Feuereifer eins zu eins übernommen hatte.» («Merkels Treibjagd» von Roger Köppel, Weltwoche vom 20. September 2018)
  • «Die Regierung hatte die Parole ausgegeben, und alle beteten sie nach: In Chemnitz gab es Hetzjagden auf Ausländer. Einziger Beweis war das Kanzlerwort auf der Grundlage dieses Films, der allerdings keine Hetzjagden zeigte. Wer sich zweifelnd vorwagte, wurde von Inquisitorengesichtern umzingelt und als Verharmloser etikettiert. Schon damals konnten alle, die es sehen wollten, die Wahrheit sehen, aber die meisten wollten eben nicht sehen.» («Merkels Treibjagd» von Roger Köppel, Weltwoche vom 20. September 2018)
  • «Um ein Haar wären sie mit dieser Fabrikation der Wirklichkeit auch durchgekommen (…)» («Merkels Treibjagd» von Roger Köppel, Weltwoche vom 20. September 2018)
  • «So wurde aus den falschen Hetzjagden von Chemnitz eine richtige Treibjagd auf den mutigen Beamten.» «Merkels Treibjagd» von Roger Köppel, Weltwoche vom 20. September 2018)
  • «Maassen jedoch widersprach den ‹Hetzjagden› und rückte stattdessen die Asylkriminalität von Chemnitz wieder in den Fokus. Was für Merkel und Co wie ein Steilpass für die Opposition aussah, waren nur Fakten aus der Wirklichkeit.» («Merkels Treibjagd» von Roger Köppel, Weltwoche vom 20. September 2018)
  • «Es gab keine Hetzjagden auf Ausländer in Chemnitz.» («Verleumdung erster Güte» von Roger Köppel, Weltwoche vom 6. September 2018)
  • «Die Regierung weigert sich, ihre eigenen Fake News zu korrigieren.» («Verleumdung erster Güte» von Roger Köppel, Weltwoche vom 6. September 2018)
  • «Ich habe am Dienstag bei der Generalstaatsanwaltschaft in Dresden angerufen. Mir wurde bestätigt, dass es bis jetzt keinen einzigen Beweis für eine «Hetzjagd», geschweige denn mehrere «Hetzjagden» in Chemnitz gebe. Merkel hat ihren Fehler bis jetzt nicht korrigiert.» («Verleumdung erster Güte» von Roger Köppel, Weltwoche vom 6. September 2018)
  • Der grösste Skandal der letzten Woche ist, dass Kanzlerin Merkel und ihr Sprecher ungeprüft die linksextreme Propagandalüge übernahmen, es habe «Hetzjagden» von Deutschen auf Ausländer in Chemnitz gegeben. Obwohl die sächsische Generalstaatsanwaltschaft die Fake News längst dementierte, hat man aus dem Regierungsviertel noch keine Korrektur gehört. (Editorial von Roger Köppel, Weltwoche vom 6. September 2018)

Sächsische Ermittler sind nun aber zum Schluss gekommen, dass es bei den Ausschreitungen in Chemnitz zu gezielten rassistischen Angriffen kam. Das berichtet ein Rechercheverbund von Journalisten der «Süddeutsche Zeitung», «WDR» und «NDR» unter Berufung auf einen vertraulichen Bericht des sächsischen Landeskriminalamts (LKA).

«Verabredung zur Gewalt»
Die «Süddeutsche Zeitung» zitiert Auszüge aus dem LKA-Bericht. Demnach seien die Demonstrationen durch «eine hohe Gewaltbereitschaft gegenüber den eingesetzten Polizeibeamten, Personen mit tatsächlichem oder scheinbaren Migrationshintergrund, politischen Gegnern, sowie Journalisten» geprägt gewesen. Im Übrigen hätten die Ermittler in Chats, die von Mobiltelefonen bekannter Rechtsextremer aus dem Raum Chemnitz stammen, zahlreiche Formulierungen und Dialoge gefunden, «die die Ermittler als Verabredungen zu Gewalt gegen Migranten und Prahlereien über angeblich erfolgreiche Jagden auf Ausländer deuten.»

Die Chats würden «die tatsächliche Umsetzung von Gewaltstraftaten gegen Ausländer» verdeutlichen, zitiert die «Süddeutsche Zeitung» aus dem Bericht. So sollen rechtsextreme Demonstrationsteilnehmer selber den Begriff «Jagd» verwendet haben – und das zu einem Zeitpunkt, bevor Medien über Jagdszenen berichtet hatten.

Die «Süddeutsche Zeitung» liefert einige Beispiele. So habe ein Demonstrationsteilnehmer geschrieben, er habe «Bock, Kanacken zu boxen». Es gebe «übelst aufs Maul hier», sei eine weitere Aussage in Chats gewesen. Der spätere mutmassliche Rädelsführer der Gruppe «Revolution Chemnitz», Christian K., soll in Chats versucht haben, weitere Teilnehmer für die Demonstration zu mobilisieren. Unter anderem soll er geschrieben haben, dass er noch nicht wisse, wie es weitergehe und dass er keine Informationen darüber habe, «ob noch eine Jagd ist.»

Prahlereien nach Übergriffen
In den Tagen nach den Demonstrationen sollen die Rechtsextremen dann damit angegeben haben, dass sie erfolgreiche Jagd auf vermeintliche Migranten gemacht hätten. Christian K. habe gegenüber einem Bekannten angegeben, dass es ihm gut gehe, dem «neu Zugewanderten», den er erwischt habe, aber nicht. Später am Tag soll er geschrieben haben, er sei in der Nähe eines Zentrums, weil er dort «Kanacken mit Messern» vermute. Er hoffe, dass er vielleicht noch einen «erwische wie gestern.»

Die «Süddeutsche Zeitung» liefert weitere Chatprotokolle die belegen, dass weitere Demonstrationsteilnehmer damit geprahlt haben, «Kanacken und Rotzer weggeklatscht» zu haben. Gegenüber der «Süddeutsche Zeitung» wollten sich die Urheber der Textnachrichten nicht äussern. Die Staatsanwaltschaft Chemnitz hat gegen Christian K. inzwischen ein Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung eingeleitet.

Köppel weist Kritik zurück
Aber obwohl Köppel als Journalist vor Ort war und nach eigener Aussage mit Menschen aus sämtlichen Lagern geredet hatte, bekam er von der Anwesenheit von Rechtsradikalen und Neonazis scheinbar nur wenig mit. Von Hetzjagden und den Verabredungen zu Gewalttaten will Köppel überhaupt nichts mitbekommen haben. Natürlich kann das möglich sein, niemand kritisiert einen Journalisten, der bei einer Grossveranstaltung nicht jedes Detail mitbekommen hatte. Nur handelte es sich in diesem Fall nicht um ein Detail, sondern um ein wichtiges Element, das im Nachgang beinahe eine Regierungskrise ausgelöst hatte.

Gegenüber «Infosperber» weist Köppel Kritik zurück und hält an seinen zitierten Darstellungen fest. Köppel räumt zwar ein, er könne die angeblich vertraulichen Informationen nicht beurteilen. Seine Informationen zu den «angeblichen Hetzjagden» in Chemnitz habe er durch «persönliche Anfragen an die zuständigen Justizbehörden in Dresden und vom Bundesnachrichtendienst» bekommen. Mit diesem habe er «damals intensiv gesprochen». Es handle sich also nicht wie behauptet um persönliche Urteile, «sondern um offizielle behördliche Aussagen, die in meinem Text auch als solche ausgewiesen werden».

Die Versuchung war zu gross
Köppel übte sich in der Kunst der Verharmlosung: So schrieb er etwa von spontanen Demonstrationen, obwohl die Aufmärsche von rechtsextremen Strukturen mitorganisiert waren und diese bundesweit dafür mobilisiert hatten. Trotzdem kam Köppel zum Schluss, dass die meisten Protestierenden normale Chemnitzerinnen und Chemnitzer gewesen und nur eine Minderheit Neonazis oder Rechtsradikale mitmarschiert seien. «Die Medien bliesen die Nazi-Ausschweifungen, die nicht repräsentativ waren, gross auf.»

Der SVP-Nationalrat, der in seiner Doppelfunktion als Journalist unter Zwischentiteln wie «Gesinnung statt Fakten» oder «Fabrizierte Wirklichkeiten» über Chemnitz schrieb, fällt nun seinem Narrativ zum Opfer. Denn die Geschichte, wie sie Köppel erzählt, stimmt nicht. Die Demonstrationen waren nicht spontan; es gab Verabredungen zur Gewalt. Aber Köppel konnte nicht anders. Zu verlockend war das Narrativ der ganz normalen deutschen Bevölkerung, die spontan, in Massen und friedlich gegen Ausländerkriminalität auf die Strasse ging.

Ignoriert die «Weltwoche» die neue Entwicklung, so ignoriert sie wichtige Fakten und erzählt die Geschichte nicht weiter. In diesem Fall würden die schweren Vorwürfe, die sich hinter Köppels Zwischentiteln «Gesinnung statt Fakten» und «Fabrizierte Wirklichkeiten» verbergen, an den Absender zurückgehen.

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2 Meinungen

  • am 6.09.2019 um 09:51 Uhr
    Permalink

    Ich denke , sowohl das Narrativ von Herr Köppel wie auch das Narrativ von Herr Tscherrig ist stark vereinfacht. Wenn tausende auf die Strasse gehen, hat dies meist tief liegende Gründe. Die Idee, es gab einen Vorfall und alle gehen auf die Strasse wird oft geliefert. Spricht man aber dann direkt mit den Leuten, sieht man, dass es diverse Gründe gibt. Der Auslöser, der Funke ist oft noch nicht einmal der eigentliche Grund. Offensichtlich wurde dies bei der Gelbwestenbewegung. Viele Medien stellten den Benzinpreis in einen Fokus der ihm schlicht nicht gerecht wurde. Sowohl in YouTube-Videos als auch bei persönlichen Gesprächen mit Demonstranten stellte ich fest: Es geht um viel mehr! So war es wohl auch in Chemnitz. Die Menschen gehen auf die Strasse in Chemnitz, in Frankreich, in Serbien, in Indien, in Hongkong, in den USA,… Was ist eigentlich los?

    Sowohl die «rechte» als auch die «linke» Presse igeln sich in ihren Vorurteilen und Narrativen ein. «Die Menschen gehen gegen Ausländergewalt auf die Strassen!» oder «Die Menschen sind Rassisten und hetzen gegen Ausländer!» Beide Position reichen nicht aus, um solche Massenphänomene zu erklären und ich wünsche mir mehr Empathie und Weitsicht von beiden Seiten.

    – Wieso demonstrieren weltweit Millionen von Menschen?
    – Die Welt ist im Wandel, nur wohin?

  • am 7.09.2019 um 01:52 Uhr
    Permalink

    Ob Hetzjagd in Chemnitz oder nicht, die Situation in Ostdeutschland ist bedrückend. Man gehe einfach mal spazieren dort, sagen wir in Dresden. 40 Jahre unter der Dusche des Kommunismus› spülten nicht nur Verhaltensweisen wie chronische Unzufriedenheit mit allem und jedem an die Oberfläche, sondern auch die Geistesverwandtschaft dieser ‹perversen Religion› (Milos Forman) zu den Nazis.

    Im übrigen hat man in Deutschland den Wiederaufstieg der Nazis seit 40 Jahren mit Alibi-Aufregung verziert, aber in Wirklichkeit nur gelangweilt verfolgt . Niemand hat den Horden wirklich Einhalt geboten, am allerwenigsten die Justiz. Daß es in dem Land, meiner Heimat, nach dem 2. Weltkrieg tatsächlich wieder solche Gruppierungen gibt, ist der eigentliche und unglaubliche Skandal. (Ich weiß, ich bin etwas abgewichen vom Thema, aber das lag mir auf der Zunge.)

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