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Kinder aus Moldawien im «swisscor»-Camp 2014 © swisscor

Viel Arbeit nach den Kriegen

Robert Ruoff /  Die Stiftung «Swisscor» betreut seit dem Jahr 2000 Kinder aus kriegsversehrten Ländern in medizinischen Lagern in der Schweiz.

Es gibt sie noch, die andere Schweiz, die die humanitäre Tradition des Landes lebt. Es gibt sie auch und gerade in dem bürgerlichen Milieu, dessen politische Repräsentanten sich lautstark vor allem mit Abgrenzungsparolen gegen Ausländerinnen und Ausländer profilieren. Aus Überzeugung oder aus politischem Opportunismus. Auch gegen Hilfsbedürftige aus Armuts- und Kriegsgebieten. Es ist, wie so häufig in der Geschichte der Schweiz, ein Kontrastprogramm.

Während in Syrien, in Afghanistan, im Irak, in Palästina und – gerade mal drei Flugstunden entfernt – in der Ukraine nicht nur Soldaten und Söldner sondern auch zivile Erwachsene und ganz und gar unbeteiligte Kinder zusammengeschossen werden, findet in der Schweiz zum 15. Mal ein medizinisches Lager statt, in dem zwischen 80 und 100 Kinder aus ehemaligen Kriegsgebieten betreut und auf eine bessere Zukunft vorbereitet werden.*

«Ich wollte nicht nur eine Neujahrsansprache vor dem Lötschbergtunnel halten, sondern auch etwas Vernünftiges tun», erklärte der 72-jährige alt-Bundesrat beim Tag der offenen Tür der Stiftung «swisscor», die er nach der Rückkehr von einem Besuch im ehemaligen Kriegsgebiet noch als Bundespräsident gegründet hat. «Swisscor» arbeitet seit dem Jahr 2000 in einer «Public-Private-Partnership», in einem kleinen «bürgerlich-militärischen Komplex» in dem sich das persönliche Engagement und die materiellen Mittel im Einsatz für Gesundheit und Frieden verbinden.

Betreuung der Verwaisten

Es begann mit Kindern aus Bosnien-Herzegowina, und darauf folgten Kinder aus Serbien, Kroatien, Mazedonien und Montenegro bis hin schliesslich zum Friedenslager von 2006 im Pestalozzidorf in Trogen, wo Kinder aus allen vorherigen «Swisscor»-Ländern zusammenkamen. Sie kommen alle aus Ländern, die beim Zerfall des multiethnischen und multireligiösen jugoslawischen Staates von 1991 bis 1998 in einen grausamen Krieg verfielen, der immer wieder auch Züge einer «ethnischen Säuberung» annahm. Es war ein Krieg, der Feindschaft säte. Und deshalb war und ist es bis heute ein «swisscor»-Ziel, den Kindern über kulturelle und religiöse Grenzen hinweg eine Erfahrung frohen und friedlichen Zusammenlebens zu vermitteln, mit Blick auf eine gemeinsame Zukunft.

Dabei kümmert sich «swisscor» gezielt in erster Linie um Kinder aus armen Familien und aus Waisenhäusern. Die Stiftung trifft die Auswahl der Kinder vor Ort während einer Informationsreise, und die mitgereiste «swisscor»-Ärztin macht noch im Heimatland eine erste Untersuchung, um die medizinische Betreuung in der Schweiz zu planen.

Medizin und Freude herrscht

Zu Beginn des Lagers wird jedes Kind so rasch wie möglich medizinisch und zahnmedizinisch untersucht, damit die Ärztinnen, Ärzte und Zahnmediziner in den beiden Schweizer Wochen den Kindern alle nötige Hilfe geben können. Das beginnt mit der kompletten Sanierung sämtlicher Zähne in einer eigens dafür eingerichteten Zahnarztpraxis und der Instruktion des täglichen Zähneputzens. Es geht weiter mit der Anpassung, dem Austausch oder der Beschaffung von Prothesen, Orthesen (Stabilitätshilfen), Korsetts oder Spezialschuhen. Die Anpassung oder Beschaffung von Rollstühlen, von Brillen oder von Hörhilfen gehört dazu, und in Einzelfällen kann auch einmal eine Operation notwendig sein, um nachhaltige Wirkung zu erzielen.

All das findet statt im Rahmen eines Lagerbetriebs, der darauf ausgerichtet ist, dass bei den Kindern jeden Tag Freude herrscht. Singen, Tanzen, Sport sind Teil des Programms, aber auch unvergessliche Ausflüge in Zoologische Gärten, auf Bauernhöfe mit Begegnungen mit Tieren, und zu Schweizer Sehenswürdigkeiten mitten in der grossen Alpenwelt. Die Erinnerungen aus den zwei Schweizer Wochen sollen die Kinder ein Leben lang begleiten und die Werte lebendig erhalten, die im «swisscor»-Camp vermittelt werden.

Privates Geld und öffentliche Unterstützung

Seit dem Jahr 2000 sind die «swisscor»-Camps ein Ort der Zusammenarbeit von Privaten und öffentlicher Hand. Für die Zahnmedizin sind Militär-Zahnärzte im Einsatz, daneben erbringen Spezialärzte ihre freiwilligen Leistungen, desgleichen das Pflegepersonal, und Zivilschutzeinheiten leisten – auf eigene Initiative – in den Ferienlagern ihren Dienst. Das VBS, das sich im Jahr 2007 zurückgezogen hatte, erbringt nach einer Anfrage des Luzerner Nationalrats Hans Widmer (SP) unter Ueli Maurer wieder Transportleistungen kostenlos und stellt bei Bedarf Unterkünfte und Infrastruktur zu guten Konditionen zur Verfügung. Direkte finanzielle Unterstützung durch den Bund gibt es nicht.

Zahlreiche Sponsoren tragen ihren Teil bei zum Erfolg. Besonders berührend ist das Beispiel das Bekleidungsunternehmen Vögele, das seit einigen Jahren jedes Jahr am Anfang des Camps jedem Kind ein persönlich adressiertes Paket mit passenden Kleidern und Schuhen zukommen lässt. Auch da steckt Freiwilligenarbeit drin.

Für die flüssige Finanzierung bleibt «swisscor» aber auf private Spender angewiesen, wie etwa den Distrikt 1980 von Rotary Schweiz/Liechtenstein (Zentraldistrikt Schweiz zwischen Basel und Chiasso), der in den letzten beiden Jahren die «swisscor»- Camps in hohem Masse finanziert hat. Nach dem Auslaufen dieser Unterstützung sind neue Spender gesucht, um die Reihe der bisher 15 medizinischen Camps fortsetzen zu können. Seit dem Jahr 2000 sind Mittel in Höhe von rund 3.5 Millionen Schweizer Franken aufgebracht wurden; heute gibt es einen Jahresbedarf von rund zweihunderttausend Franken. Seit dem Jahr 2000 konnten auf dieser Grundlage 1343 Kinder teilnehmen. 1’762 medizinische und zahnärztliche Behandlungen haben stattgefunden, 172 Mobilitätshilfen, 70 Brillen, eine Augenprothese und 20 Hörgeräte wurden abgegeben. Und 1’500 Freiwillige haben rund 100’000 Stunden Einsatz geleistet.

Nachhaltigkeit: Der Blick in die Zukunft

Die Gründung von «swisscor – Die Schweiz zeigt Herz» war der spontane Akt eines Politikers am Ende seiner nationalen Karriere, der sich berühren liess und überzeugt war: «Es muss etwas getan werden!» Heute richtet die Stiftung immer stärker den Blick auf medizinische, aber auch auf gesellschaftspolitische Nachhaltigkeit.

Der medizinischen Nachhaltigkeit dient die Konzentration auf ein einziges Land. Seit 2010 pflegt «swisscor» die Zusammenarbeit ausschliesslich mit Moldawien, nachdem vorher jedes Jahr Kinder aus einem anderen europäischen Land in die Schweiz kommen konnten (Ausnahme 2008: das arabische Land Jordanien). Das heisst, dass bei den Vorbereitungsreisen für die neuen Lager der Zustand von Prothesen, Brillen, Rollstühlen in Moldawien und die Hygiene überprüft werden kann. Und es ermöglicht den Aufbau von Vertrauensbeziehungen zu den moldawischen Partnerpersonen und -Organisationen, die sich spürbar stärker engagieren, seit sie wissen, dass die «swisscor»-Camps nicht nur eine einmalige karitative Aktion ist und der Besuch der Mediziner eine gut gemeinte Stippvisite.

Über kulturelle und religiöse Grenzen hinweg

Moldawien ist eines der ärmsten Länder Europas. Es fällt wie sein Nachbarland, die Ukraine, in jene Zone Südosteuropas, das der wechselnden türkischen, polnischen, rumänischen, russischen oder sowjetischen Herrschaft unterworfen war, mit kurzen Phasen der mehr oder minder grossen Unabhängigkeit. Offiziell als selbständiger Staat existiert Moldawien seit 1991. Offizielle Staatssprache ist rumänisch (genannt: moldauisch), aber russisch ist nach wie vor stark verbreitetet. Und die nationalistische Politik der moldawischen Regierung hat rasch die Spannungen zwischen der russisch bestimmten Kultur Transnistriens und der moldawischen Führung aufgeladen. Bis hin zum militärischen Konflikt, den der Einsatz der noch in Transnistrien stationierten russischen Truppen vorerst zugunsten der Autonomie entschieden hat. Transnistrien hat heute eigene Staatsorgane, die völkerrechtlich aber nicht anerkannt sind. Das Gebiet lebt, unterstützt von Putins Russland, in einem «eingefrorenen Konflikt» mit dem moldawischen Staat.

In weitgehender Autonomie existiert auch die moldawische Region Gagausien, die das politische Zentrum des kleinen Turkvolks der Gagausen ist. Ihre Sprache ist eine Variante des Türkischen.

Friedensarbeit in ständiger Kriegsgefahr

In diesem geschichtlichen, kulturellen und religiösen Spannungsfeld bewegt sich «swisscor» mit seinen medizinischen und multikulturellen Aktivitäten. Und die Stiftung bewegt sich erfolgreich: Im Sommercamp 2014 trafen sich Kinder und Jugendliche aus dem rumänisch-lateinischen Moldawien ebenso wie aus dem turkisch-christlich-orthodoxen Gagausien und dem russisch-orthodoxen und russischsprachigen Transnistrien. Die Begegnungen zwischen den Kindern aus diesen verschiedenen Regionen Moldawiens, der Aufbau von Beziehungen und sogar Freundschaften, waren ein wesentlicher Bestandteil des «swisscor»-Camps 2014.

Moldawien wird in diesem Herbst mit den Parlamentswahlen eine neue Belastungsprobe bestehen müssen. Strömungen für den Anschluss an Russland oder den Anschluss an Rumänien bestehen immer noch; entsprechend wächst die Spannung. «swisscor» wird auch in den kommenden Jahren ein sinnvolles Betätigungsfeld für medizinische und gesellschaftlich-politische Heilungsprozesse haben.

*Das «swisscor»-Camp 2014 hat im Juli in Fiesch VS stattgefunden. Im Jahr 2015 wird Mels SG Gastgeber sein.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der Autor war von 2004 bis 2007 tätig als Medienberater des Sonderberaters des UNO-Generalsekretärs für Sport im Dienste von Entwicklung und Frieden, Adolf Ogi

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Eine Meinung zu

  • am 26.08.2014 um 10:40 Uhr
    Permalink

    Mich hat vor allem ddieser Satz angesprochen:

    "Ich wollte nicht nur eine Neujahrsansprache vor dem Lötschbergtunnel halten, sondern auch etwas Vernünftiges tun», erklärte der 72-jährige alt-Bundesrat beim Tag der offenen Tür der Stiftung «swisscor», die er nach der Rückkehr von einem Besuch im ehemaligen Kriegsgebiet noch als Bundespräsident gegründet hat."

    NachahmerInnen würden herzlich beklatscht.

    Werner T. Meyer

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