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US-Gesundheitsversorgung: Am teuersten, aber nicht am besten © cc

Verhasste Staatsmedizin gut für Kriegs-Veteranen

Martina Merten /  Der Gesundheitsökonom Professor Uwe Reinhardt von der Princeton University erklärt, warum das US-Gesundheitssystem ein Murks ist.

Rückgang der Zahl der Unversicherten seit 2013

Präsident Barack Obama hat eine allgemeine Versicherungspflicht durchgesetzt. Professor Uwe Reinhardt spricht über die komplexe Bedeutung des Begriffs Solidarität in den USA, Intransparenz im US-Gesundheitssystem und über die Mentalität der «Freiheit».

Herr Professor Reinhardt, warum halten viele Amerikaner die Gesundheitsreform von Präsident Barack Obama mit ihrer allgemeinen Versicherungspflicht für Staatsmedizin?

Uwe Reinhardt: Viele wissen gar nicht, was Staatsmedizin ist. Mir gegenüber hat ein Senator einmal dagegen gewütet und ich habe entgegnet: Wenn Staatsmedizin so schlecht ist, warum versorgen Sie Ihre Kriegsveteranen in einem solchen System? Die Versorgung der Veteranen ist Staatsmedizin in Reinkultur. Dem Staat gehört nicht nur die Versicherung, er betreibt auch die Versorgung. Das ist Sozialismus: Der Staat verfügt über die Produktionsstätten.
Eine Sozialversicherung ist etwas ganz anderes. In einem solchen System teilt sich eine große Gruppe von Versicherten das individuelle Krankheitsrisiko. Es muss auch nicht zwingend staatlich organisiert sein, sondern kann und wird auch häufig von privaten Versicherungsunternehmen betrieben.
In der Zeit vor Obamacare galt: Wenn man kränker ist, zahlt man eine höhere Prämie. Wenn man sehr krank ist, kann man keine Versicherung abschliessen. Es ist für viele Amerikaner sehr kompliziert, die wahre Bedeutung des Wortes «sozial» zu verstehen.

Wird die amerikanische Bevölkerung falsch informiert?
Ja, und zwar gezielt. Desinformation charakterisiert zurzeit die öffentliche Debatte. Beide Parteien, sowohl Republikaner als auch Demokraten, betreiben das. Die armen, hart arbeitenden Amerikaner, die weder die Zeit noch die Ressourcen haben, sich in die Thematik einzuarbeiten, werden von Medien und Think Tanks manipuliert. Auf dem rechten Flügel besorgt das der Sender Fox, auf dem linken Flügel NSNBC.
Glauben Sie, dass die Gesundheitskosten in den USA sinken würden, wenn das Land eine Sozialversicherung nach dem Vorbild von Medicare, der staatlichen Versicherung für Alte, einführte?

Ich glaube, ja. Die Gesundheitsausgaben in den USA sind extrem hoch. Aber wir Amerikaner nehmen weniger Gesundheitsleistungen in Anspruch als die Deutschen oder Schweizer. Europäer gehen häufiger zum Arzt oder ins Krankenhaus, auch die Liegezeiten sind länger. Sie nehmen mehr Medikamente. Wie kann es da sein, dass unsere Gesundheitsausgaben doppelt so hoch sind wie die der Europäer? Das liegt an den Preisen. Egal welche Leistungen sie sich anschauen, sie sind zwei- bis dreimal so teuer wie in Europa.

Woran liegt das?
In den USA gibt es gut 2000 Krankenversicherungsunternehmen. Und jedes Krankenhaus verhandelt mit jeder Versicherung, ohne dass die einzelnen Häuser wirklich Einfluss auf die Preise hätten. In vielen Fällen bleiben die Preise geheim. Vielleicht wird das Ganze transparenter, wenn sich die Informationstechnologie weiterentwickelt. Wenn man den Preis kennt, kann man vernünftiger entscheiden.
War die Furcht vor niedrigeren Preisen ein Grund dafür, dass viele Ärzte Obamacare ablehnten?

Die Gesundheitsausgaben des einen sind die Einnahmen des anderen. Es gibt riesige Lobbyorganisationen, die dafür sorgen, dass unsere hohen Gesundheitsausgaben noch höher werden. Ich denke gerade darüber nach, ein Buch zu schreiben. Der Titel: «Warum ist das amerikanische Gesundheitssystem so ein Murks?»

Welches Versicherungsmodell würden die Amerikaner am ehesten akzeptieren?
Am ehesten wohl das Schweizer System. Es ähnelt sehr dem deutschen, erlaubt aber mehr Selbstbeteiligung der Versicherten. Das ist das einzige Marktelement. Ausserdem ist der Versicherungswechsel in der Schweiz sehr einfach. Man gibt auf der entsprechenden Internetseite Ort

Professor Uwe Reinhardt
und Alter an und schon erscheint eine Website, die einem sagt, was man zu tun hat. Im Vergleich zu den USA ist das unglaublich.

Warum ist der Abschluss einer Versicherung in den USA so kompliziert?
Wir haben den einzelnen Staaten erlaubt, die neuen Versicherungsbörsen im Internet selbst zu betreiben, über welche die Menschen eine Versicherung abschliessen können. Und viele sind dazu nicht in der Lage. Die Websites sind eine Katastrophe. Man muss beispielsweise das Einkommen angeben und dann gleicht das System mit der Finanzbehörde ab, ob sie auch nicht gelogen haben. Machen Sie das mal für Millionen Menschen. Das endet im Chaos.

Sie rechnen nicht damit, dass 2020 die Zahl der nicht versicherten Amerikaner wesentlich niedriger ist als vor Präsident Obamas Gesundheitsreform. Warum nicht?
Die Gesundheitsausgaben steigen zwar nicht so schnell wie früher. Aber sie steigen jedes Jahr. Das Produkt, das man kauft, wird jedes Jahr teurer. Zugleich klafft die Einkommensschere immer weiter auseinander. Das mittlere Einkommen lag 2010 bei 56’000 US-Dollar je Familie. Inzwischen liegt es bei 52’000 US-Dollar. Das heisst, die Zahlungsfähigkeit nimmt ab. Immer mehr Menschen können sich ihre Versicherung nicht mehr leisten und benötigen Unterstützung. Aber der amerikanische Steuerzahler kann keine höheren Steuern zahlen, obgleich wir im Vergleich mit anderen OECD-Staaten am niedrigsten besteuert werden. Das ist ein Hexenbrei, aus dem immer mehr Nichtversicherte hervorgehen.
Wer nicht versichert ist, muss von 2017 an Strafe zahlen. Wird das dazu beitragen, die Zahl der Nichtversicherten zu senken?
Für die meisten wird die Strafgebühr billiger sein als die Versicherungspolice, selbst wenn sie dafür eine Förderung erhalten. Viele werden sich sagen, wenn ich mich versichere, kostet mich das 4000 Dollar im Jahr, während ich 800 Dollar an Strafe zahle. Also bleiben die Leute unversichert und hoffen, dass sie nicht krank werden. Die Strafgebühr ist ein zahnloser Tiger.
Aus europäischer Sicht könnte man meinen, den Amerikanern fehlt es an Solidarität. Woher kommt das?
Das hat zum Teil mit der amerikanischen Geschichte zu tun. Für viele Amerikaner sind Freiheit und Individualismus Inbegriff eines glücklichen Lebens. Die Leute wollen frei sein, bis heute.
Dieses Land ist das beste Land der Welt, wenn man klug und gesund ist. Es gibt kein anderes Land, in dem man sich so gut entfalten kann. Aber wenn man weder klug noch gesund ist, ist es hier hart.
Viele Immigranten hängen dem amerikanischen Traum hinterher. Sie träumen davon, irgendwann zu dem einen Prozent der Bevölkerung zu gehören, das es geschafft hat. Dabei ist die soziale Mobilität in der amerikanischen Gesellschaft viel niedriger als in vielen europäischen Staaten. Man hört ja kaum von denen, die es nicht geschafft haben.
Liegt es am fehlenden Sinn für Solidarität, dass so viele Menschen in den USA sozial am Abgrund stehen?
Hier argumentiert man so: Ich habe ein grosses Haus und fahre ein grosses Auto. Das könntest Du auch haben, wenn Du hart genug gearbeitet hättest. Das ist die Mentalität. Und zu einem grossen Teil glauben die Leute mit niedrigem Einkommen daran.

Das ist eine Art, den Leuten Schuldgefühle einzureden…
Genau, nach dem Motto, jeder kann Präsident werden. Arnold Schwarzenegger ist ein gutes Beispiel: Ein armer Junge aus Österreich geht nach Kalifornien und macht Karriere. Die Armen glauben diese Geschichten. Hier gibt es keinen Sozialneid. Aber die Gesellschaft räumt einem auch keine mildernden Umstände für persönliches Versagen ein.
Das ändert nichts daran, dass ich die Amerikaner sehr mag. Sie sind im Übrigen im internationalen Vergleich ein glückliches Volk. Das zeigen Umfragen. Wenn ein Amerikaner über das deutsche Eisenbahnnetz spricht, sagt er, das ist wunderbar. Ein Deutscher würde antworten: «Früher war alles besser.»


Dieses Interview erschien im deutschen Ärzteblatt (Dtsch Arztebl 2014; 111(43): A-1844 / B-1580 / C-1512)


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Professor Uwe Reinhardt (76) gehört zu den führenden Gesundheitsökonomen Nordamerikas. Seit 1970 unterrichtet er als James Madison Professor of Political Economy an der Princeton University in New Jersey, USA. Geboren in Osnabrück, wanderte er zunächst nach Kanada aus, wo er 1964 seinen Bachelor of Commerce erwarb. 1970 wurde er an der Yale University in den USA in Wirtschaftswissenschaften promoviert

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