Erdogan

Der türkische Präsident Erdoğan vergrössert kontinuerlich seinen internationalen Einflussbereich. © gk

Erdogan rüttelt am Vertrag von Lausanne 1923

Christian Müller /  Wer aus «historischen Gründen» Gebietsansprüche stellt, provoziert nicht selten kriegerische Auseinandersetzungen. Erdogan tut's.

Im Ersten Weltkrieg gehörte das Osmanische Reich zu den Verlierer-Staaten. Erst 1923 wurde in Lausanne ein «Frieden» ausgehandelt – kein Ereignis, auf das Europa stolz sein kann. Gut an dem Vertrag war, dass endlich die Grenzen zwischen den sich bekriegenden Staaten Griechenland und Türkei festgesetzt wurden. Ohne dies wäre ein einigermassen dauerhafter Friede nicht möglich gewesen. Nicht gut war: Man glaubte, mit der Umsiedlung von beinahe zwei Millionen Menschen Ruhe in diese Region zu bringen. Aber die Geschichte zeigt: Massen-Umsiedlungen haben kaum je zum Frieden beigetragen.

Nun hat der türkische Staatspräsident auch die damaligen Grenzziehungen öffentlich in Frage gestellt. Die NZZ hat in einem sehr informativen Artikel darüber informiert.

Infosperber hat schon am 15. Februar 2015 in einem speziellen Beitrag an diesen Vertrag von Lausanne erinnert. Aus Anlass von Erdogans rhetorischer Drohung sei er hier nochmals hervorgeholt:

Eine Chance für Lausanne und die Schweiz

Bald sind es 100 Jahre seit dem «Vertrag von Lausanne» zur Umsiedlung von zwei Millionen Menschen: ein Anlass zum Denkanstoss.

Das abgelaufene Jahr 2014 war das «Jubiläumsjahr» des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges. Jubiliert wurde dabei nicht, wohl aber zurückgeschaut und analysiert. Wie konnte es zu dieser Katastrophe überhaupt kommen? Gibt es Schuldige? Wer hätte den Krieg noch verhindern können? Etliche Historiker haben versucht, mehr Licht in diese Zeit zu bringen. Und die Bücher fanden viele Leserinnen und Leser: Krieg ist wieder ein Thema. Leider.

Schon in drei Jahren wird es dann das Ende des Ersten Weltkrieges sein, das «gefeiert» werden kann. 17 Millionen Menschenleben hat nach übereinstimmenden Schätzungen der Erste Weltkrieg gefordert. Und was hat man daraus gelernt?

Die Friedensverträge waren nicht nachhaltig

Nur gut 20 Jahre später brach bereits der Zweite Weltkrieg aus. Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass die verschiedenen Friedensverträge nach 1918 – der Vertrag von Versailles, der Vertrag von Saint-Germain-en-Laye, der Vertrag von Neuilly-sur-Seine, der Vertrag von Trianon und der Vertrag von Sèvres – nicht wirklich nachhaltig waren.

Im Vertrag von Sèvres vom 10. August 1920 wurde das Osmanische Reich, das zu den besiegten Teilnehmern des Ersten Weltkrieges gehörte, per Diktat der siegreichen Entente massiv verkleinert. Im Westen fielen Teile des Osmanischen Reiches an Griechenland, im Osten wurden Armenien und Mesopotamien (Irak) zu selbständigen Staaten erklärt, andere, grosse Gebiete wurden einem französischen Mandat und weitere einem britischen Mandat unterstellt. Ziel war, das Osmanische Reich definitiv zu entmachten und zu zerstören. Die Delegation des Osmanischen Reichs unterschrieb den Vertrag denn auch nur unter grossem Protest und ratifiziert vom türkischen Parlament wurde der Vertrag von Sèvres nie.

Der türkisch-griechische Krieg ging weiter

Gleichzeitig aber herrschte auch Krieg zwischen Griechenland und der Türkei. Griechenland, das zu den Siegermächten des Ersten Weltkrieges gehörte, wollte die Gelegenheit nutzen, die westanatolische Küste ganz zurückzuerobern, was aber nicht gelang, im Gegenteil. Allein schon bei der Rückeroberung von Smyrna (Izmir) durch die Türken wurden 40’000 Griechen und Armenier umgebracht und ganze Stadtteile abgebrannt. Ein weiteres Zusammenleben von Griechen und Türken – definiert nicht nach ethnischen, sondern nach religiösen Kriterien – war kaum mehr möglich.

So wurde der Vertrag von Sèvres zur Makulatur und bereits 1923 revidiert: im Vertrag von Lausanne. Dort wurde beschlossen, dass die etwa 1,3 Millionen türkischen Staatsangehörigen in Kleinasien, die dem griechisch-orthodoxen Glauben angehörten, nach Griechenland umgesiedelt werden sollten und die etwa eine halbe Million griechischen Staatsangehörigen in Griechenland, die dem muslimischen Glauben anhingen, in die Türkei auszuwandern hatten.

Die Umsiedlung von fast zwei Millionen Menschen, im Schloss von Ouchy zwischen der Türkei, Grossbritannien, Frankreich, Italien, Japan, Griechenland, Rumänien und dem serbisch-kroatisch-slowenischen Staat ausgehandelt, im Palais de Rumine in Lausanne am 24. Juli 1923 unterzeichnet: ein historisches Ereignis, das nicht in Vergessenheit geraten darf.

Der religiöse Glaube als Kriterium der «nationalen» Zugehörigkeit

Ohne hier in Details zu gehen: Der Vertrag von Lausanne basierte auf der Annahme, mit Umsiedlungen von Millionen von Menschen sei Friede zu schaffen. Man ging davon aus, dass Unfriede und Krieg die Folge von unterschiedlichen religiösen Bekenntnissen sei. Und genau dieses Thema ist, fast hundert Jahre später, heute wieder höchst aktuell. Die Idee des säkularen Staates, in dem verschiedene Konfessionen friedlich nebeneinander leben können, ist in grosser Gefahr, man denke an die kriegerischen Auseinandersetzungen im israelisch/palästinensischen Konflikt und neu an die kriegerischen Auseinandersetzungen im Irak und in Syrien. Aber auch in weiter entfernten asiatischen Ländern und gerade jetzt auch wieder in Westafrika werden im Namen des Glaubens blutige Kriege geführt.

Ein Blick auf die Landkarte der Religionen zeigt es mit aller Deutlichkeit: Es gibt nur ganz wenige Staatsgrenzen, die zugleich scharfe Grenzen der Religionszugehörigkeit sind. Wer Staatsgrenzen nach dem Kriterium der Religionszugehörigkeit ziehen will, initiiert Krieg.

Lausanne und die Schweiz sind gefordert

Das in acht Jahren stattfindende 100-Jahr-Jubiläum des «Vertrages von Lausanne» gibt der Stadt Lausanne, dem Kanton Waadt und der Schweiz die Chance, zu diesem Thema etwas zu leisten. Gefragt sind ein internationaler Gedenkanlass, ein internationaler Historiker-Kongress, eine grosse dokumentarische Ausstellung – als Minimum. Die Universität ist mit zusätzlichen Forschungen und Dissertationen zum Thema gefordert, auch in Zusamenarbeit mit anderen Universitäten im In- und im Ausland. Die ortsansässigen religiösen Gemeinschaften in Lausanne könnten mit einem neugeschaffenen Ort des friedlichen Zusammenseins einen Beitrag leisten.

Acht Jahre Vorbereitung bei Start im Jahr 2015

Die Schweiz ist für die Organisation eines solchen Jubiläumsanlasses prädestiniert. Sie hat es (bis jetzt) geschafft, das friedliche Zusammenleben von Menschen verschiedener religiöser Bekenntnisse zu gewährleisten. Kaum ein anderes Land geniesst in diesem Punkt international eine höhere Glaubwürdigkeit.

Wann setzen sich der Lausanner Stadtpräsident Daniel Brélaz, der Rektor der Universität Lausanne Dominique Arlettaz und die für die Kultur zuständige Conseillère d’Etat Anne-Catherine Lyon zusammen? Acht Jahre ist für die Vorbereitung und Organisation eines solchen Jubiläumsanlasses gerade richtig.

Voir aussi la version française de cet article. – Diesen Beitrag hat Infosperber auch auf französisch veröffentlicht.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor ist promovierter Historiker.

Zum Infosperber-Dossier:

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2 Meinungen

  • am 7.10.2016 um 05:39 Uhr
    Permalink

    Eigentlich heisst der Stadtpräsident von Lausanne nicht Daniel Brélaz sondern Grégoire Junod; und die Rektorin der Universität Lausanne heisst nicht Dominique Arlettaz sondern Nouria Hernandez. Dazu wird im nächsten Jahr Anne-Catherine Lyon nicht mehr als Conseillère d’état kandidieren dürfen; die Medien haben in den letzten Paar Wochen ausführlich darüber berichtet. Die drei im Artikel erwähnte Personen werden sich höchsten für ein Papet vaudois zusammen setzen.
    (Anm.Red.: Wie aus dem Vorspann unzweideutig hervorgeht, handelt es sich bei dem Text um eine Wiederholung eines Artikels vom 15. Februar 2015. Die damals richtigen Namen wurden nicht aktualisiert. Trotzdem Dank für die Ergänzung!)

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