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Studenten an der Uni in Zürich – die neusten Verursacher von Gräben? © UZH

Sind die Akademiker die nächsten «Schuldigen»?

Christian Müller /  Unzufriedene brauchen zur Erklärung ihrer Situation Schuldige. Oft sind es die Medien, die ihnen diese liefern.

Wer meint, Politiker müssten ein gutes Programm haben, um demokratisch gewählt zu werden, irrt. So war es einmal! Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, als Europa in Ruinen – «ruiniert» – am Boden lag, gab es visionäre, zuversichtliche und mutige Leute, die aufzeigten, wohin die Reise jetzt führen sollte. Und sie wurden von der breiten Bevölkerung gewählt und getragen. Es ging aufwärts, jahrelang, jahrzehntelang. Wer in den 1940er Jahren geboren wurde, erlebte in Westeuropa fast nur eines: den stetigen Aufstieg Richtung Wohlstand – nicht zuletzt dank dem Ausbleiben von früher regelmässigen Kriegen, dank dem Frieden in einem mehr und mehr vereinigten Europa. Einem Frieden, der kaum mehr gefährdet schien.

Tempi passati. Seit die wirtschaftliche Rolltreppe stottert und oft steht, müssen Schuldige her. Und die sind gefunden! Geopolitisch ist es Russland, ja sogar auf die eine Person zugespitzt, auf Wladimir Putin. In Europa ist es «Brüssel», das «Bürokratie-Monster», von dem viele allerdings nur gerade wissen, dass dort Geld verschwendet wird. Und in den einzelnen Nationalstaaten? Da sind es jetzt die «Eliten», die alles falsch machen – meist ohne genauere Bezeichnung. Der Italiener Beppe Grillo, von Hause aus ein volkstümlicher Komiker, hat noch nie gesagt, wohin er politisch will, aber er hat stets betont, dass er «dagegen» ist. Das genügte bei den Parlamentswahlen in Italien im Jahr 2013 immerhin gut 25 Prozent der Abstimmenden, Grillos Movimento Cinque Stelle, der Fünf-Sterne-Bewegung, die Stimme zu geben. – Einverstanden, Beppe Grillo ist ein extremes Beispiel, aber für Europa im Moment doch nicht untypisch.

Und wie ist es in der Schweiz?

Natürlich ist in der Schweiz die Behauptung, die «Eliten» seien schuld an dem oder jenem Malaise, wie hierzulande ein Unbehagen üblicherweise genannt wird, nicht ganz so plausibel. Im gelobten Land der Direkten Demokratie können wir immerhin alle gemeinsam darüber entscheiden, wie die politischen Räder zu laufen haben – bis zu so unendlich schwerwiegenden Entscheidungen, ob Moscheen ein Minarett haben dürfen oder ob Kühe Hörner haben sollen.

Italien kennt die direkte Demokratie nicht. Die Kühe haben aber auch ohne sie Hörner – hier im Valle Veddasca, unweit der Schweizer Grenze (Photo cm).

Wenn politische Entscheidungen an der Urne aber das eine oder andere Mal nicht ganz so simpel zu verstehen und zu interpretieren sind, pflegt man hierzulande nach Gräben zu suchen. Es gibt den Sprach- bzw. Röschtigraben, den Religionsgraben, den Graben Stadt/Land, den Graben Jung/Alt und den Graben Frau/Mann, hier explizit benannt nach einer doppelseitigen Graben-Analyse in der Zeitung «Schweiz am Wochenende». Und bei dieser ihrer Analyse hat dieses Blatt noch einen neuen Graben gefunden, einen «grossen Graben» sogar, wie das Blatt in der Headline schreibt: den Graben zwischen Akademikern und Nicht-Akademikern! Das Fundstück ist absolut genial, denn damit ist ein Graben gefunden, der perfekt ins neue Weltbild des Elite-Bashings passt: Die Akademiker sind die Ursache des gegenwärtigen Demokratie-Malaise! Schuld ist die Bildungselite!

Der Chefredaktor des Blattes, Patrik Müller, schreibt: «In der Schweiz war bislang von anderen Klüften die Rede. Vom Röstigraben, der 1992, bei der Abstimmung über den Europäischen Witschaftsraum, das Land entlang der Sprachgrenze spaltete. Vom Graben zwischen Stadt und Land, der wiederholt zum Vorschein kam, zuletzt bei der Masseneinwanderungsinitiative. Oder vom Generationengraben, den Politologen bei der bevorstehenden Abstimmung über die Altersreform vermuten. – Diese Gräben gibt es, doch vieles deutet darauf hin, dass auch hierzulande der Bildungsgraben der tiefste ist: Das Abstimmungsverhalten unterscheidet sich in kaum einem Kriterium so stark wie beim Bildungsgrad.»

Auch ohne Uni-Ausbildung zum Erfolg

Doch Patrik Müller weiss zu relativieren. Die Schweiz sei mit dem bisherigen System bisher gut gefahren, schreibt er und sagt zu Recht: «Das duale System mit einer starken Berufsbildung ist entscheidend dafür, dass die Arbeitslosigkeit, auch unter Jugendlichen, so tief und die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Schweiz weltweit spitze ist.» Und Patrik Müller versucht die Nicht-Akademiker auch ein bisschen zu trösten: «Die beste Ausbildung ist eben nicht immer ein Universitätsstudium. Zur Elite kann man – ein helvetisches Unikum – genauso gut gehören, wenn man den nichtakademischen Weg eingeschlagen hat. Das gilt sogar in der Hochfinanz, wie die Karriere von UBS-Chef Sergio Ermotti beweist.»

Sergio Ermotti? Patrik Müller hätte im gleichen Satz auch den ehemaligen UBS-Chef Marcel Ospel nennen können, der die Grossbank 2007/2008 so brutal in den Ruin führte, dass sie vom Staat Schweiz mit über 60 Milliarden Franken gerettet werden musste. Auch Marcel Ospel hatte eine Banklehre absolviert und nie eine Universität von innen gesehen, auch wenn ihm, kurz vor seinem spektakulären Absturz, die US-amerikanische Privatuniversität Rochester noch den Ehrendoktor verliehen hatte.

So ändern sich die Zeiten – Sic transit gloria mundi

Ist es wirklich eine Auszeichnung, wenn man auch ohne akademisches Studium Chef der UBS werden kann?

1977 schrieb Adolf Wirz, der Vater von Jost Wirz, dem heutigen Ehrenpräsidenten der Wirz Communication Gruppe und 1936 Gründer der ersten schweizerischen Werbeagentur, ein kleines, aber vielbeachtetes Buch: «Der Humanist ist der bessere Manager.» Er brachte zum Ausdruck, dass es nicht genügt, nur zu wissen, wie man Geld macht. Man sollte, gerade auch als Manager, auch die Welt, wie sie entstanden ist und wie sich unsere Gesellschaft entwickelt hat, ein bisschen verstehen. Hat Marcel Ospel, der die UBS mit hochriskanten Spekulationen in den Abgrund gefahren hat, selber aber Multimillionär geworden und trotz Bank-Absturz geblieben ist, neben dem Geld etwas von dieser Welt verstanden? Wikipedia weiss immerhin zu berichten, dass er ein begeisterter Basler Fasnachtstrommler war. Und versteht Sergio Ermotti, der heutige UBS-Chef, der allein im letzten Jahr 13,7 Millionen Franken Gehalt und Boni kassiert hat, etwas von unserer Gesellschaft? Von unserer Gesellschaft, die in nicht allzu weiter Ferne an der sich immer weiter öffnenden Kluft zwischen Arm und Reich zugrunde zu gehen droht? Immerhin: Die «Schweiz am Sonntag», das Vorläuferblatt der «Schweiz am Wochenende», hat ihn, Sergio Ermotti, wie Wikipedia ebenfalls weiss, Ende 2015 zum erfolgreichsten SMI-Manager gekürt …

Patrik Müller hat recht: Man muss kein Akademiker sein, um «erfolgreich» zu sein, um zur «Elite» zu gehören. Nur: Muss man denn unbedingt zur Elite gehören? Man kann seinen ordentlichen Beitrag an unsere Gemeinschaft und Gesellschaft ja auch als Handwerker, auch als Mechaniker in einer Autogarage oder auch als Landwirt erbringen. Wer ein paar Lebensjahre in eine Hochschulausbildung investiert, hat beruflich einfach eine zusätzliche Chance. Aber muss jetzt ein neuer Graben, der Graben zwischen dem «Mann von der Strasse» und der «Bildungselite», der Graben zwischen Nicht-Akademikern und Akademikern, geöffnet und publizistisch als Neuentdeckung bewirtschaftet werden?

Es gibt nicht nur Gräben, es gibt auch Gemeinsamkeiten

Ich selbst bin zwar auch so ein Akademiker, denn ich habe an der Uni Zürich ein Studium absolviert und ordentlich abgeschlossen. Soll ich mich jetzt schämen, weil ich damit zur sogenannten Bildungselite gehöre, die demokratische Abstimmungen gefährdet?

Mich interessieren aber, um ehrlich zu sein, gerade auch als Akademiker, nicht in erster Linie die Gräben. Mich interessieren viel mehr unsere Gemeinsamkeiten!

Statt geopolitisch gegen Russland, europapolitisch gegen «Brüssel» und nationalstaatlich gegen die «Eliten» zu wettern: Wann beginnen auch die Medien endlich wieder, sich für die Gemeinsamkeiten von uns Menschen zu interessieren? Zum Beispiel für die Allmende – nicht nur im Sinne gemeinschaftlichen Bodenbesitzes, auch im Sinne gemeinschaftlichen Nutzens von Luft und Wasser, auch im Sinne von gemeinschaftlichen Betreibens neuer Technologien, von Service Public, von gemeinschaftlichen Dienstleistungen?

»Der Humanist ist der bessere Manager»: Es wäre wohl kein Schaden, wenn auch an der Spitze der grossen Finanzinstitute nicht nur karrierebewusste Banklehrlinge sässen, die zwar die Rechenmaschinen zu bedienen gelernt haben, aber zum Beispiel von den Errungenschaften der Französischen Revolution halt keine Ahnung haben. Banker, für die Liberté, Égalité und Fraternité (in jedem Sinne des Wortes) nur Fremdwörter sind!

Wir brauchen eine menschenfreundlichere Zukunft

Gerade die Studentinnen und Studenten an den Universitäten sind auch unsere Hoffnungsträger! Auch wenn die unsinnige Bologna-Reform des Hochschulwesens die universitäre Bildung auf eine universitäre Ausbildung reduziert hat und kaum mehr Spielraum für andere Fächer offen lässt: Der Blick über den Tellerrand des eigenen Faches hinaus ist oft die einzige Chance, Fehlentwicklungen zu erkennen und, wenn nötig, konkret zu benennen und zu bekämpfen. Woher soll die Erkenntnis kommen, dass der US- und EU-weite Neoliberalismus mit der Reduktion alles Menschlichen auf das «Humankapital» das spezifisch Menschliche unserer Gesellschaft zunehmend und sichtbar zerstört? Es sind die heutigen Studentinnen und Studenten, die diesen Irrweg erkennen, benennen und mit neuen Ideen und Forderungen bekämpfen müssen!

Wem gehört die Welt? Ein hochinteressantes Buch mit über 30 Artikeln zum Thema Gemeingut. Es gibt viel mehr Gemeingüter, als wir uns zu denken gewohnt sind!

Aber seien wir fair. Auch in der – ebenfalls unter Chefredaktor Patrik Müller erscheinenden – «Nordwestschweiz» gibt es Artikel, die sehr lesenswert sind, zum Beispiel jene von Christoph Bopp. So auch wieder dessen letzter in der Ausgabe vom 30. März: Computer, zahl mir die Rente! Bopp macht sich anhand einer Buchbesprechung Sorgen, wie es bei der zunehmenden Ersetzung menschlicher Arbeitskraft durch Roboter weitergehen wird. Ein Stück Sozialgeschichte zur Frage: Was hält unsere Gesellschaft trotz der aufgehenden Kluft Reich/Arm zusammen? Dass Christoph Bopp Dozent an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Windisch ist, sei hier nur nebenbei erwähnt. Halt wieder so ein Bildungselite-Akademiker …


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.

Zum Infosperber-Dossier:

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Reich, arm, ungleich

Grösser werdende soziale Kluften gefährden demokratische Rechtsstaaten.

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2 Meinungen

  • am 3.04.2017 um 16:13 Uhr
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    Ich persönlich verstehe unter «Elite» etwas ganz anderes, als «nur» das Bildungsniveau.

    Es mag in der Schweiz tatsächlich viele Menschen geben, die auf die von den Medien gelieferten «Gräben» (Feindbilder) anspringen und sich dazu verleiten lassen, alle Akademiker pauschal als die Sündenböcke hinzustellen (Hier stellt sich mir die Frage, ob die krassen Lohnunterschiede zwischen Akademiker- und Nicht-Akademiker-Berufen gerechtfertigt sind und für die allgemeine Zufriedenheit förderlich sind).

    Die westlichen Eliten sind m.M.n. die Inhaber von Grosskonzernen wie Google oder Facebook, Grossbanken wie die BIZ in Basel oder die FED in Amerika, ultrareiche und einflussreiche Globalisten wie George Soros, Pharmakonzerne wie Bayer oder Chemiekonzerne wie Monsanto und natürlich nicht zu vergessen, die Rüstungsfirmen wie Lockheed Martin, die ein Milliardengeschäft mit dem Tod machen. Viele dieser Big Players nehmen massiv Einfluss auf die Medienlandschaft und versuchen so ihre eigenen Interessen einer Mehrheit im Volk schmackhaft zu machen.

    Beim Thema Geopolitik spielen natürlich auch die Geheimdienste eine entscheidende Rolle.

  • am 18.04.2017 um 23:10 Uhr
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    Sie schreiben gerade ein wenig am Artikel vorbei, denn die Akademiker, die Sie mit den Lohnunterschieden anvisieren und die die Medienlandschaft zu ihren Gunsten umgekrempelt haben, sind nicht alle. Ich glaube, dass Sie vermutlich nicht an Historiker, Biologen, Philosophen, Physiker, Musikwissenschaftler oder Geographen denken. Nichtsdestotrotz versuchen die rechten Mainstream-Medien gerade dann von den Eliten zu sprechen, um etwa bei Geisteswissenschaftler ein «nutzloses Studium» anzuprangern. Damit lenken sie davon ab, dass studierte Juristen, Ökonomen und Informatiker gerade die Abschlüsse sind, unter denen sich eben Big Player befinden, die einen negativen Einfluss auf unser Zusammenleben haben. Und Journalisten sind oft gescheiterte Studenten, die sich dann damit abmühen, ihre Ressentiments gegen Hochschulabgänger mit dem vom politischen Zeitgeist geforderten Antiintellektualismus zu verbinden.

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