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Syrische Flüchtlinge warten im jordanischen Flüchtlingslager Zaatari auf Hilfe © Dan Giannopoulos/Handicap International

Hilfe für Syrienflüchtlinge: Fussball und Prothese

Andreas Zumach /  Im jordanischen Camp Zaatari leben viele, die der Krieg in Syrien verkrüppelt hat. Eine Hilfsorganisation lindert die Not.

Jooris rechtes Bein ist unterhalb des Knies blutunterlaufen und nicht einmal halb so dick wie das linke. Von Muskeln keine Spur mehr. Der stark nach innen gekrümmte Fuss steht schief ab und hat nur noch zwei Zehen. Ein Granatsplitter hat die Zehnjährige aus der südsyrischen Provinz Daraa vor acht Monaten beim Spielen mit der Freundin getroffen.

Seit einer ersten Notoperation läuft sie auf Krücken. Jooris Freundin wurde von einem Splitter im Hals getroffen, sie war sofort tot. Aber «Joori wird eines Tages wieder auf zwei Beinen gehen können», sagt Mohammed Fadel zuversichtlich.

Vorsichtig dreht der jordanische Medizintechniker der Hilfsorganisation Handicap International (HI) an den Schrauben des Drahtgestells, das Jooris Unterbein zusammenhält und entsprechend dem Körperwachstum nachjustiert werden kann. «Eine Konstruktion, die wir eigens für die kriegsverletzten Kinder und Jugendlichen aus Syrien entwickelt haben.» Fadels nächster Patient hat weniger «Glück gehabt» als Joori. Das linke Bein des 18-jährigen Moh’d ist endgültig weg.

Nach einem Bombenangriff auf das Haus seiner Familie lag Moh’d zwei Tage und Nächte unter zentnerschweren Trümmern, bevor er gerettet wurde. Das Bein musste amputiert werden. An den verbleibenden kurzen Stummel hat ihm der Medizintechniker eine Prothese angepasst. Doch die muss jede Woche auf ihren korrekten Sitz überprüft werden, damit sich der Beinstummel nicht wund scheuert und entzündet.

Besonders Schutzbedürftige

Die Behandlungspraxis von Fadel befindet sich in einem schmucklosen, knapp 18 Quadratmeter grossen Container im Flüchtlingslager Zaatari, rund 85 Kilometer nordöstlich der jordanischen Hauptstadt Amman, nahe der syrischen Grenze. Im Nachbarcontainer macht Physiotherapeut Loai Maher gerade Bewegungsübungen mit dem 22-jährigen Khalid. Sein Bein wurde durch eine Gewehrkugel am Kniegelenk beschädigt. Die erforderliche komplizierte Operation erfolgte erst in einem Ammaner Krankenhaus nach seiner Flucht nach Jordanien. «Wenn Khalid seine Übungen auch regelmässig zu Hause machen würde, könnte er schon bald wieder Fussball spielen», sagt Maher mit leicht vorwurfsvollem Unterton.

In einem weiteren Container spielt Sozialarbeiterin Iba Khalil Memory mit der fünfjährigen Rama, die seit Geburt durch eine Gehirnerkrankung schwer behindert ist. Auf Bänken zwischen den drei Containern warten geduldig zahlreiche PatientInnen, darunter sehr viele Kinder mit ihren Müttern, bis sie an die Reihe kommen. Im Unterschied zu Ländern wie Laos oder Afghanistan, wo Handicap International ausschliesslich Menschen versorgt, die durch Antipersonenminen oder Streumunition körperlich verletzt und verstümmelt wurden, kümmert sich die Hilfsorganisation im Syrienkonflikt darüber hinaus auch um traumatisierte, alte, behinderte und besonders schutzbedürftige Menschen unter den inzwischen über 12 Millionen Flüchtlingen und Binnenvertriebenen.

Handicap International

Mit fast 500 MitarbeiterInnen in Jordanien, Libanon, Nordirak und Syrien kümmert sich die Hilfsorganisation seit Mai 2012 um verletzte und andere besonders schutzbedürftige syrische Flüchtlinge und Binnenvertriebene. Bis Ende Januar dieses Jahres erhielten bereits 40‘000 kriegsverletzte Menschen Prothesen, Rollstühle und andere Bewegungshilfen. Rund 30‘000 Kriegsopfer wurden durch regelmässige physiotherapeutische und andere Rehabilitationsmassnahmen versorgt. 12‘000 Menschen erhielten psychosoziale Unterstützung.

Für die 1982 gegründete Hilfsorganisation mit Hauptsitz im französischen Lyon ist das der bislang grösste und teuerste Einsatz ihrer Geschichte. Finanziert wird die Arbeit von Handicap International durch Spenden sowie aus Mitteln des Programms der Europäischen Kommission für Humanitäre Hilfe und Zivilschutz (Echo).

Die 92-jährige Aysha ist die älteste Bewohnerin von Camp Zaatari. Die schwer gehbehinderte und leicht altersverwirrte Frau stammt aus einem südsyrischen Dorf, das im Bürgerkrieg mehrfach heftig umkämpft war. Der volle Name soll hier nicht genannt werden, um eventuell noch lebende Verwandte nicht zu gefährden. Vor neun Monaten brachten Nachbarn die alte Frau im Auto über die Grenze nach Jordanien und lieferten sie in Zaatari ab. Hier lebt Aysha auf dem Boden in einem der etwa zehn Quadratmeter grossen Standardzelte des UNO-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR). Die wöchentliche Visite der Sozialarbeiterin und des Physiotherapeuten bringen ein wenig Abwechslung in das Leben der völlig vereinsamten Frau. Ihre Besucher fragt Aysha immer wieder mit grosser Verzweiflung nach dem Schicksal ihrer Kinder und Enkel, von denen sie seit ihrer Flucht aus Syrien nichts mehr gehört hat.

Mit derzeit über 85‘000 BewohnerInnen vornehmlich aus den grenznahen südlichen Regionen Syriens ist Camp Zaatari das zweitgrösste Flüchtlingslager der Welt. Die Versorgung dieser Menschen mit Nahrungsmitteln und sonstigen Gütern des täglichen Bedarfs ist – im Unterschied zu den meisten anderen Flüchtlingslagern dieser Welt – nicht allein von Lieferungen des UNHCR, des Welternährungsprogramms oder anderer humanitärer Organisationen abhängig. Es gibt im Lager mehrere hundert kleine Läden, die von jordanischen Händlern beliefert werden, und es gibt Friseure, Schuhmacher und viele andere Dienstleistungsbetriebe. Die Regierung in Amman war klug genug, den syrischen Flüchtlingen, die ausserhalb der Lager nicht arbeiten dürfen, dieses Gewerbe im Lager zu erlauben. Zumal die lokale jordanische Wirtschaft davon profitiert.

80 Prozent der Flüchtlinge leben in Wohnungen

80 Prozent der inzwischen fast 700‘000 syrischen Flüchtlinge in Jordanien leben allerdings nicht in den Lagern, sondern in Wohnungen verstreut über das ganze Land. Wenn sie die Mieten nicht durch eigene Ersparnisse bestreiten können, übernimmt das UNHCR die Kosten. Die körperlich Verletzten und besonders Schutzbedürftigen unter ihnen werden von den mobilen Teams von Handicap International betreut.

Ein besonders tragischer Fall ist die Familie des 40-jährigen Kamal. Er selbst wurde durch eine Schussverletzung arbeitsunfähig. Zwei seiner fünf Kinder erkrankten im Alter von 8 und 11 Jahren schwer – möglicherweise infolge ihrer Traumatisierung durch den Krieg. Beide Kinder haben die Fähigkeit zu sprechen und zu hören verloren und sitzen weitgehend bewegungsunfähig im Rollstuhl. Bislang konnten die jordanischen Ärzte die Ursache der Erkrankung nicht feststellen. Die siebenköpfige Familie lebt zusammen mit der völlig tauben Schwester von Kamals Frau, der eine Bombenexplosion beide Trommelfelle zerrissen hat, in einer circa 40 Quadratmeter grossen Zweizimmerwohnung in Amman. Doch über die Lippen dieser so schwer vom Schicksal getroffenen Menschen kommt kaum ein Wort der Klage. Nur Dank und Lob für die Jordanier, die sie aufgenommen haben, und für die unmittelbaren Haus- und Wohnungsnachbarn, die ihnen im täglichen Überlebenskampf helfen.

Lediglich der 42-jährige Khalid, der mit Frau und zwei kleinen Kindern in zwei kleinen Zimmern in einem Vorort von Amman lebt, beschwert sich, dass «der Mietzuschuss des UNHCR zu gering» sei. Unter den Flüchtlingen ist er auch der Einzige, der sich darüber äussert, welche Konfliktpartei im syrischen Bürgerkrieg für seine Verletzungen und zeitweise völlige Lähmung der Beine und Sprechorgane verantwortlich war.

Denunziert, inhaftiert, gefoltert

«Ich wurde von einem Arbeitskollegen wegen meiner kritischen Äusserungen über das Assad-Regime denunziert, von der Sicherheitspolizei verhaftet und über zwei Monate lang fast täglich verhört und mit Elektroschocks sowie Schlägen auf Rücken und Beine gefoltert.» Da Khalid seinen Folterern «nichts Wichtiges verraten konnte», liessen sie ihn wieder laufen. Sein Schwager brachte ihn im Auto über die syrische Grenze nach Amman. Dank intensivem Sprechtraining und physiotherapeutischer Behandlung kann Khalid inzwischen wieder fast so gut sprechen wie vor seiner Verhaftung.

In zwei Monaten will er «wieder ganz gesund sein, endlich arbeiten und meine Familie selber ernähren». Dass syrische Flüchtlinge ausserhalb der Camps nicht arbeiten dürfen, schreckt ihn nicht. «Ich werde schon etwas finden», meint er zuversichtlich. Tatsächlich arbeiten in Jordanien nach inoffiziellen Angaben Tausende syrische Flüchtlinge «illegal». Doch mittelfristig will Khalid mit seiner Familie «auf jeden Fall wieder zurück nach Syrien, in meine Heimat».

Im Lager Zaatari spielen zwei Jungs Fussball. Beide tragen Trikots des FC Bayern München. Dem mitkickenden Reporter aus Deutschland schwärmen die beiden vor von Ribéry, Müller und Co, deren Spiele sie zu Hause in Syrien immer im Fernsehen mitverfolgten. Hier im Lager geht das zu ihrem grössten Bedauern nicht, weil es für die Flüchtlinge weder eine Satellitenversorgung noch Internetzugang oder ein funktionierendes Mobilfunknetz gibt. «Aber wenn wir wieder zu Hause in Syrien sind, dann soll der FC Bayern kommen und gegen unsere Nationalmannschaft spielen.»

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Dieser Beitrag ist in der Tageszeitung «taz» erschienen. Die Reise wurde von Handicap International unterstützt.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Andreas Zumach ist spezialisiert auf Völkerrecht, Menschenrechtspolitik, Sicherheitspolitik, Rüstungskontrolle und internationale Organisationen. Er arbeitet am europäischen Hauptsitz der Uno in Genf als Korrespondent für Printmedien, wie beispielsweise die tageszeitung (taz), Die Presse (Wien), die WoZ und das St. Galler Volksblatt, sowie für deutschsprachige Radiostationen und das Schweizer Fernsehen SRF. Bekannt wurde Zumach 2003 als Kritiker des dritten Golfkrieges. Im Jahr 2009 wurde ihm der Göttinger Friedenspreis verliehen.

Zum Infosperber-Dossier:

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