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Hans ist nicht Bhumibol oder Abhitlern & Toleranz

Jürgmeier /  Auch im Oktober wird gestorben, an privaten Tischen viel geschwiegen. Zur Toleranz gehört zivilisierte Verachtung. Ein Plagiat.

14. Oktober 2016

Ich stelle mir vor, H. sei der König von Thailand und ich mit ihm befreundet gewesen. Dann drohte mir jetzt, womöglich, eine Anzeige wegen Majestätsbeleidigung. Stichwort: «Mangelnde Trauerbekundung». Nach dem Tod von König Bhumibol – S. lacht jedes Mal laut heraus, wenn sie diesen Namen in der Tagesschau hört –, lese ich im Spiegel, wurde eine einjährige Staatstrauer verfügt und Menschen, «die Fotos von sich in bunter Kleidung veröffentlichten» bedroht, eine Frau «von einer aufgebrachten Menge gezwungen, vor dem Königsporträt niederzuknien und sich zu entschuldigen» (Spiegel, 14.10.2016).

Aber Hans, Hans Mühlethaler war nicht der König von Thailand. Der «Romancier, Lyriker und Essayist» (Fredi Lerch, Journal B) ist am 17. September 2016 im Alter von 86 Jahren, fast unbemerkt, gestorben. Gestern war, so habe ich vor einigen Tagen gehört, in Bern eine Gedenkfeier. Und ich bin nicht in den Zug nach Westen gestiegen. Keine Zeit. Korrekturen eines Buches, an dem ich beteiligt bin, mussten bis 14.00h fertig sein, zusätzlich Redaktion Infosperber. Keine Zeit für die Erinnerung an Hans, der als Sekretär der ehemaligen Gruppe Olten (1) die Schweizer Literaturpolitik massgeblich geprägt hat. Jedenfalls nicht gestern. Nicht in Bern. Er wird es mir nicht übelnehmen, weil er nichts mehr übelnehmen kann. Und wahrscheinlich ist es, für ihn & mich, wichtiger, dass ich ihn in den letzten Jahren, wenn ich in Bern war, regelmässig getroffen habe. Dass wir befreundet waren, würde ich so nicht sagen, obwohl wir einander viel Persönliches verrieten. Vermutlich verband uns das (selbst deklarierte) Scheitern, in einer Gesellschaft, in der Erfolg ein Muss ist. Der Bund zitiert in seinem Nachruf Hans‘ trotzigen Satz: «Wer scheitert, lernt mehr, als wer Erfolg hat.»

Meist hat er sich in den letzten Jahren lachend mit dem Satz verabschiedet: «Bis zum nächsten Mal. Wenn ich dann noch lebe.» Der Mann, der, nach eigener Aussage, auf den Tod wartete, nicht (mehr) zum Arzt ging, wollte dem beklemmenden Gedicht auf seiner Website, das prominent über allem steht, gerecht werden: «demographie // die demographische katastrophe // lässt sich nur verhindern // wenn die alten menschen // bereit sind // früher zu sterben.» Und in seinem grossen Essay «Evolution und Sterblichkeit», 2010 veröffentlicht, da war er 80, stehen die Sätze: «Das Elend dieser Alten besteht darin, dass sie nur noch leben, weil sie nicht sterben können. Sie erfahren den letzten Lebensabschnitt als eine Zeit des Leidens, in welcher ein Herzinfarkt den anderen, eine Operation die andere ablöst … Die Altersdemenz kann auch als eine Form der Verdrängung beschrieben werden, als ein Nicht-wahr-haben-Wollen der Realität … In einer säkularisierten Welt tritt die Medizin an die Stelle der Religion, weil sie wie diese das Bedürfnis des Menschen nach einem unsterblichen Leben befriedigt … In einer Gesellschaft, in der die Lebenserwartung ständig steigt, verwandeln sich immer mehr Menschen in medizinische Krüppel …» Irgendwie ist ihm das alles erspart geblieben, oder er hätte es mir nicht erzählt, trotzdem ist er alt geworden, in seinen Augen womöglich zu alt. Mich hat’s gefreut, dass er jeweils in dem Café, dessen Namen er mir jedes Mal wieder verraten musste, auf mich gewartet hat.

Hans war kein König. Und wir leben nicht in Thailand. Zum Glück. Uns, mir diktiert niemand Trauer. Unter Androhung von Strafe. Bei uns geht das Leben weiter, als ob nichts geschehen. Nach jedem & jeder Toten. Ganz demokratisch. Als wären sie nie gewesen. Und nie gestorben. «Wir leben weiter in unserem Werk und im Gedächtnis derer, die uns gekannt haben.» Schreibt Hans in «Evolution und Sterblichkeit». Auch wenn er sein ganzes Werk als käufliche Books on demand und E-Books auf seiner Website «verewigt» hat – ich fürchte, es wird ein kurzes Leben werden. Auch ich werde neue Bücher kaufen, sie werden mich vom Lesen der alten, die schon im Gestell stehen, abhalten. Und irgendwann wird keine & keiner mehr die Providergebühren für Hans› Website bezahlen.

23. Oktober 2016

Es ist Sonntag. Joggingzeit. Früher bin ich eifach go ränne. Später kam der Vitaparcours, der den Wald zur Werbezone für eine Versicherung machte und einen Schweizer Filmer zum «Vitaparcoeurs» trieb, in dem sich Leibesertüchtigung mit sexueller Leidenschaft paart. Während ich unseren Abfall entsorge, höre ich S. plötzlich ein «fräche Siech» zischen. Dann erklärt sie einem Unbekannten – der offensichtlich irgendetwas in einen dieser grauen Blechbehälter geworfen hat –, diese Container seien privat, öffentliche Abfallkübel stünden weiter vorne. Und sie tut es bestimmt. Der Ertappte weiss sich nur mit einem rhetorischen «Soll ich jetzt in den Container kriechen?» zu helfen. Spaziert mit der Frau weiter, die ihm, womöglich, irgendwann das Meinsolldeinsein geschworen. In guten & schlechten Zeiten. Dies sind schlechte Zeiten für ihn. S., die Hartnäckige, ruft den beiden ein «Gaats na!» hinterher, während ich zu laufen beginne, um die Aufgebrachte, fürsorglich, aus der Kampfzone zu locken.

Ich hätte nicht so mit mir reden lassen, brumme ich beim noch nicht geschnittenen Maisfeld. Werfe ihr, geschult, «Du-Botschaften» vor. Erinnere, unfreundlich, an gewaltfreie Kommunikationsformen. Soll ich unsere Gäste künftig beim Dessert beschimpfen, weil sie uns mit dem Auto besuchen oder eine Woche später auf der anderen Seite irgendeines Ozeans aufs Surfbrett steigen? Frage ich – rhetorisch. Es ist ein alter Streit, der uns Richtung Glatt treibt, die im Moment so wenig Wasser hat, dass sie leicht durchwatet werden könnte. Ich halte den Ärger über die kleinen «Abfallsünder*innen» oder die Eltern – die ihre Kinder noch durchs Quartier lärmen lassen, wenn die mit den unregelmässigen Arbeitszeiten schon zu Hause sind – für eine Art Ersatzärger. Weil wir dem grossen Müll & dem Kriegslärm ohnmächtig gegenüberstehen. Weil wir in eine Kultur verstrickt sind, die von den Vorräten & Tellern unserer Kinder & Kindeskinder isst, Gift & Dreck in den Vorgärten der Nachgeborenen entsorgt.

Ich habe es mit den grossen Bedrohungen & den grundlegenden Veränderungen. Menschen, denen die Welt eine Heimat ist, kaufen weder eine Glock (2) noch einen Laubbläser. Im Alltag lasse ich die anderen leben, was ich in Texten & Referaten kritisiere. Obwohl ich das Aushandeln von Konflikten im Hier & Jetzt propagiere. Toleranz bedeutet in letzter Konsequenz auch, «Rassisten, Faschisten, Islamisten als gleichberechtigte Gesellschaftsmitglieder zu betrachten», weil darin «das Wesen der Toleranz» liege, dieser «Last, die es zu ertragen gilt», schreibt der Philosoph & Schriftsteller Michael Schmidt-Salomon im Tagesanzeiger vom 29. September 2016. Aber die allgemeine Toleranz droht im Konkreten auch schon mal zum feigen Laissez-faire zu verkommen.

Wir wollen keinen Krach mit denen, die an unseren Tischen sitzen oder in der gleichen Werkstatt stehen. Deshalb erklären wir, leben & leben lassen, vieles zur Privatsache. Geld. Religion. Politik. Kindererziehung. Konsumgewohnheiten. Mobilitätsverhalten. Sexualität. Garderobe. Und übers Wetter lässt sich nicht ernsthaft streiten, das macht eh, was es will. Wie oft schweige ich an Tischen, auch an unserem eigenen, um nicht unter Missionierungsverdacht zu geraten? Dem Arbeits-, Familien- und Freundesfrieden zuliebe? Obwohl ich nicht wirklich als zurückhaltend & diplomatisch, sondern eher dafür bekannt bin, dass ich die Dinge bei (meinem) Namen nenne.

Womöglich müssten wir beginnen, (wieder) über Geld, Religion, Politik, Lebensformen und Pädagogik zu streiten. Gerade an «unseren» Tischen. Gerade in diesen Zeiten, in denen es einigen leichter fällt, in Talkshows ihr Sexleben zum Besten zu geben als am Familientisch den Wein-, den Fleischkonsum oder das «Abhitlern» des Jüngsten am «Rocktobersfest» in Unterwasser in Frage zu stellen. «Derjenige nämlich, der den Mut hat», fährt Schmidt-Salomon in seinem Essay fort, «dem anderen respektlos seine Meinung zu sagen, zeigt gerade dadurch, dass er ihn als gleichwertigen Diskussionspartner respektiert – statt ihn wie ein kleines Kind zu behandeln, von dem man glaubt, dass man ihm gewisse Dinge vorenthalten muss.» In einer offenen Gesellschaft muss die Meinungsfreiheit aller akzeptiert & gestärkt, die unerträglichste Rede, solange sie nicht gegen Verfassung & Gesetz verstösst, ausgehalten werden. Aber was im öffentlichen Diskurs gilt, trifft erst recht für das private Gespräch zu: Was zwar noch zu tolerieren ist (zum Beispiel rassistische Vorurteile & schwulenfeindliche Ressentiments), das kann, darf und muss «durch zivilisierte Verachtung» (Schmidt-Salomon) geschwächt werden.

Die Nachbar*innen dürfen zwar einen dieser Heizpilze auf der Terrasse montieren, damit sie auch im Winter den Blick auf den See geniessen können, aber sie müssen tolerieren, dass ich es einen ökologischen Unsinn nenne. Wie die Freund*innen, die von ihren Abenteuerferien in Afrika schwärmen. Wer das Primat irgendwelcher Götter oder Götzen reklamiert, muss damit leben, dass ihm oder ihr das «anti-aufklärerische Dogma» um die Ohren geschlagen wird. Wer behauptet, Feministinnen würden mit ihrem Aufschrei «den Männern» den Flirt & das erotische Spiel verbieten, wer es übers Mittelmeer schaffe, sei kein echter Flüchtling, wer Schweizer Recht über Völkerrecht stellen will oder schreit «Wir sind das Volk», kann zwar meine Toleranz strapazieren, aber ich muss ihm oder ihr kein Risotto kochen.

Wer verschweigt was an Tischen, an denen ich sitze? Wem blieben Fischgräte oder Rüebli im Hals stecken, wenn wir zu reden begännen? Wer käme noch zu Besuch, wenn er oder sie, bei aller Toleranz, mit zivilisierter Verachtung rechnen müsste? So viele Fragen. Nur weil sonen Tubel seinen Abfall in unseren Container geschmissen. Ohne Sack & Marke. Am Rande einer dieser Minergie-Siedlungen, in denen die Mehrheit der Eigentümer*innen 23 Grad einfordert. Was wir tolerieren, tolerieren müssen. Weil wir in einer Demokratie leben. Sie sind das Volk.

26. Oktober 2016

Manchmal rettet es einen, persönliche Überlegungen, Gefühle & Pläne öffentlich auszuplaudern. Unter dem Titel «Hamlet, pränatal» lese ich im Tagesanzeiger: «Heute erscheint Ian McEwans neuer Roman ‹Nussschale›. Erzähler ist ein unmöglicher Held: ein Fötus, der im Mutterleib über die Welt nachdenkt und einen Mord verhindern will … Ein Erzähler, wie es ihn in der Literaturgeschichte noch nicht gegeben hat …» Es geht, schreibt Martin Ebel, um einen «Fötus, der nicht wie in Charles Lewinskys ‹Andersen› [von dem ich leider auch gehört und erste Seiten gelesen habe, Jm] – welch merkwürdige Koinzidenz! – erst allmählich zu Bewusstsein kommt und auf das Vorwissen einer früheren Existenz zurückgreifen kann. Nein. McEwans Held wartet im Vollbesitz geistiger Kräfte auf seinen Eintritt in die Welt …»

«Scheisse», denke ich. Schon wieder. Bereits vor ein paar Jahren habe ich ein Romanfragment – natürlich gab es noch andere Gründe – weggeworfen, weil mir jemand den Titel, «Muttermord», gestohlen hatte. Und jetzt geht es mir wieder wie Bichsels Erfinder. Würde ich keine Zeitungen lesen, ich hätte längst einen Roman geschrieben. Seit Längerem denke ich an der Geschichte eines Kindes herum, einem ungeborenen, das seine Eltern und die Welt überhaupt beobachtet, untersucht und dann beschliesst, nicht zu kommen. So wie, umgekehrt, Föten auf Mängel gescannt werden.

Jetzt McEwan (und Lewinsky). Keine & keiner wird mir glauben, dass ich die Idee gehabt, bevor deren Romane in den Buchläden lagen und aus dem Internet «heruntergeladen» werden konnten. Die Idee ist weg. Denke ich. Der Fernseher schon erfunden. Bis mir einfällt – ich habe doch öffentlich, genau, vor etwas mehr als einem Jahr, in einem Referat über Kreativität, da habe ich die Idee verraten. Der Satz vom Kind, das beschliesst, nicht zu kommen, stammt aus diesen öffentlich vorgetragenen Reflexionen und ist – ich müsste nicht einmal Besucher*innen jener Veranstaltung als Zeug*innen in einem Plagiatsprozess bemühen – inzwischen in einem Buch veröffentlicht. Auch wenn McEwan und Lewinsky ihn nicht gelesen haben – ich bin gerettet.

(1) Eine der Vorgänger-Organisationen des heutigen Schriftstellerverbandes Autorinnen und Autoren der Schweiz.

(2) Selbstladepistole, mit der Anders Breivik auf Utøya mordete.

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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Jrgmeier_200

Jürgmeiers Fällander Tagebuch

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