Kommentar

Sprache: Bei SVP-Text hilft «in Gedanken umdeuten»

Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Daniel Goldstein /  In der Durchsetzungsinitiative stehen Wörter, welche die Bundeskanzlei «sinnlos» findet – bei ihr und im Parlament durchgerutscht.

Verstehen Sie, was gemeint ist, wenn es auf die «letzten zehn Jahre seit dem Entscheid» ankommt? Nicht? Wenn Sie stimmberechtigt sind, dann sollten Sie es aber verstehen, denn Sie sind aufgerufen, am 28. Februar dieser Formulierung zuzustimmen oder sie abzulehnen. Sie steht im Satz: «Das Gericht oder die Staatsanwaltschaft verweist Ausländerinnen und Ausländer, die wegen einer der folgenden strafbaren Handlungen verurteilt werden, aus dem Gebiet der Schweiz, wenn sie innerhalb der letzten zehn Jahre seit dem Entscheid bereits rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Geldstrafe verurteilt worden sind:».
Es folgt der Katalog jener Straftaten, die bei Ersttätern nicht zur Ausweisung führen, sondern erst bei Vorbestraften – wenn es nach der Durchsetzungsinitiative der SVP geht. Eine Leserin mit exzellenten, aber nicht muttersprachlichen Deutschkenntnissen hat mich gefragt, was für ein Entscheid gemeint sei und wie «die letzten zehn Jahre seit» diesem zu verstehen seien. Ich habe ihr geantwortet: «Diesem Satz kann auch ein Muttersprachler keinen Sinn abgewinnen. Ein Blick in die französische Version zeigt, dass die Worte ‹seit dem Entscheid› schlicht und einfach weggelassen werden müssen: «… s’il a déjà été condamné au cours des dix années précédentes …».
Laut Bundeskanzlei «sinnlos»
Es geht also um die zehn Jahre, die der aktuellen Verurteilung vorangegangen sind. So steht es auch in der Botschaft des Bundesrats zur Initiative, und die Bundeskanzlei bestätigt mir: «Die Präpositionalphrase ‹…seit dem Entscheid› ist sinnlos, denn wir befinden uns ja im Moment des Entscheids. Aus dem Kontext lässt sich aber der Sinn eruieren, indem man gedanklich ‹seit dem Entscheid› umdeutet in ‹vor dem Entscheid›.» Ich gestehe, dass es mir leichter fällt, an einem amtlich bewilligten Text gedanklich etwas wegzulassen, als es umzudeuten. Aber eigentlich erwarte ich von einer Abstimmungsvorlage, dass ich weder das eine noch das andere tun muss.
Indes: «Die Bundeskanzlei hat (bei Initiativen) nicht die Kompetenz, eine redaktionelle Prüfung wie bei Behördenvorlagen vorzunehmen. Nachdem es in den vergangenen Jahren zu vereinzelten Problemen bei den Initiativtexten gekommen ist, hat die Bundeskanzlei vor gut einem Jahr ihre Prüfung der Übereinstimmung der Sprachfassungen … verstärkt. Die Durchsetzungsinitiative ist eingereicht worden, bevor die Bundeskanzlei diese Massnahmen ergriffen hat.» Und so ist die schlampig redigierte Stelle in der Kanzlei und auch im Parlament durchgerutscht. Dieses hatte ja auch schon inhaltlich genug an der Initiative zu kauen und erklärte eine andere Bestimmung (Einschränkung des zwingenden Völkerrechts) gar für ungültig.
Wie irreführend darf es sein?
Wie die Bundeskanzlei weiter mitteilt, überprüft sie neben Formalitäten und Übereinstimmung der Sprachfassungen auch, ob der Titel der Initiative irreführend (oder anderswie unzulässig) sei. Auch da hat sie offenbar Milde walten lassen: Im Titel steht «zur Durchsetzung der Ausschaffung krimineller Ausländer». Mit der Ausschaffung ist ausdrücklich jene gemeint, die infolge einer früheren Initiative in der Verfassung vorgeschrieben ist. Wird aber die neue Initiative ebenfalls angenommen, so betrifft die Ausschaffung auch Leute, die von den ursprünglichen Bestimmungen nicht betroffen sind: eben jene, die innert zehn Jahren nach einer Verurteilung ein Delikt begehen, das für sich allein nicht zur Ausschaffung führen würde. Daniel Binswanger sprach daher im «Magazin» von «Etikettenschwindel» und erinnerte an «Abzocker» sowie «Masseneinwanderung».
Initianten dürfen eben viel: Der Titel «No Billag» schlüpfte auch durch, obwohl es nicht um die Firma geht, sondern um die Gebühren, die sie eintreibt. Und das «No» steht wohl nicht einmal in einer Landessprache; falls man es gnädig nicht als Englisch, sondern als Italienisch auffassen sollte, wäre die Ausdrucksweise bestenfalls kindlich.
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlust»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor ist Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel» und schreibt für die Zeitung «Der Bund» die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.

3 Meinungen

  • am 9.01.2016 um 14:20 Uhr
    Permalink

    Kann es sein dass die in der Schweiz allmaechtigen dialekte daran schuld sind, dass die leute muehe haben mit der schriftsprache? Ich sehe das alleweil bei meiner arbeit als uebersetzerin. Die zu uebersetzenden texte in deutsch enthalten oft komplizierte, umstaendliche saetze und typische dialektwendungen die erst bereingt werden muessen ehe der eigentliche sinn klar wird.

  • am 9.01.2016 um 17:22 Uhr
    Permalink

    @Broggi: Da könnten Sie wohl recht haben. Es kann aber auch als Indiz für die bescheidene Bildung der Initianten gelesen werden.

  • am 12.01.2016 um 14:32 Uhr
    Permalink

    Die französische und die italiensche Version meinen zehn Jahre vor einem nicht näher spezifizierten Zeitpunkt. Die deutsche Version hingegen total verunglückt. Nach meinem Verständnis nennt die Formel «innerhalb der letzten zehn jahre seit dem Entscheid» zwei unabhängige zeitliche Angaben, welche nicht voneinander abhängen: a) seit dem Entscheid, (Deutschschweizer meinen damit oft sowohl «zuvor» als auch «danach"), und b) innerhalb der letzten zehn Jahre. Das ist verwirrend, aber nicht wirklich widersprüchlich.

    In der italienischen, bzw. französchen Fassung ist es klar: Wer ein Delikt nach Ziffer 2 begangen hat und dafür mit einer Gefängnis- oder Geldstrafe belegt wurde (Art. 3), und der innerhalb der vorangegangenen zehn Jahren bereits zu (irgend-) einer Gefängnis- oder Geldstrafe verurteilt wurde (Art. 2), derjenige wird des Landes verwiesen.

    Die deutsche Fassung ist diesbezüglich sehr verwirrend bis widersinnig.
    In Ziffer 3 geht es um die zehn Jahre, welche dem Delikt (einem derjenigen in Art. 2 aufgezählten) vorausgingen. Denselben Zeitraum meint auch Ziffer 2. Ziffer 2 nennt, welche Delikte hier zu berücksichtigen sind, nämlich für den Entscheid des Richters.
    Also muss mit «Entscheid» der Gerichtsentscheid für das letzte Delikt eines Wiederholgstäters gemeint sein. So scheint es deckunglsgleich zu der französischen und der italienischen Fassung.

Comments are closed.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...