Kommentar

Der Spieler: Rollenspiel im Bundeshaus

Synes Ernst ©

Synes Ernst. Der Spieler /  Zwischen Spiel, parlamentarischen Debatten und politischen Verhandlungen gibt es Gemeinsamkeiten. Aber auch viel Trennendes.

Seit Ende der 1970er Jahre beschäftige ich mit Politik. Als Journalist habe ich mich mit Parteien, Parlamentarierinnen und Parlamentariern, politischen Entscheiden auf kommunaler, kantonaler und eidgenössischer Ebene befasst, mit politischen Strukturen, Konflikten, personellen Fragen und vielem Anderem mehr, was man gemeinhin unter Politik zusammenfasst. Zum Beobachten, Analysieren, Beschreiben und Kommentieren kam vor ein paar Jahren die eigene politische Aktivität hinzu, zuerst als Mitglied des Parlaments und jetzt als Gemeinderat in Ostermundigen.

Fast ebenso lang wie mit Politik setze ich mich mit Spielen auseinander, als Kritiker, Mitglied der Jury «Spiel des Jahres», Referent bei Fachausbildungen und Organisator von Spielveranstaltungen.

Politik ist kein Spiel

Vor diesem Hintergrund kann es nicht erstaunen, dass ich immer wieder gefragt werde, ob es denn Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Bereichen gebe, zwischen Politik und Spiel. Oder – umgekehrt – auch Trennendes.

Sehr oft höre ich, dass Politik letztlich doch nur ein Spiel sei, das Palaver in den Parlamenten, die unendlich langen Streitereien um die ewig gleichen Themen, das alles könne man doch schon längst nicht mehr ernst nehmen. Bei allem Verständnis für die Politikverdrossenheit, die aus solchen Worten spricht – Politik ist kein Spiel. Was in der Politik geschieht, beeinflusst das Leben von Tausenden, Hunderttausenden, Millionen von Menschen tatsächlich. Während die Gesetze für die Bürgerinnen und Bürger eines Landes gelten, egal ob sie nun dafür sind oder dagegen, müssen sich an die Spielregeln nur jene halten, die bereit sind, mit anderen das betreffende Spiel auch zu spielen. Das ist einer der wesentlichen Unterschiede zwischen Politik und Spiel. Ein anderer besteht darin, dass die Spielregeln nur so lange gelten, wie das Spiel läuft. 90 Minuten also für ein Fussballspiel, bis einer als Erster die vier Figuren seiner Farbe nach Hause geschafft hat beim «Eile mit Weile». Nachher nicht mehr. Höchstgeschwindigkeiten hingegen gelten auch nachts, wenn kaum jemand mehr unterwegs ist. Und schliesslich ein dritter wichtiger Unterschied: Das Spiel hat nicht das Endgültige der Politik, ich kann immer wieder von vorne beginnen. Neues Spiel, neue Chance. Korrekturen oder andere Weichenstellungen und Strategiewechsel sind in der Politik zwar auch möglich, aber meistens nur in langwierigen Prozessen.

Böse und Brückenbauer

Politik ist also nie und nimmer ein Spiel. Aber sie ist voller spielerischer Elemente. Schauen wir uns einmal parlamentarische Debatten an, unabhängig davon, ob es sich um ein kommunales oder nationales Parlament handelt. Hier gibt es immer jene, welche die Positionen ihrer Fraktionen oder Gruppierungen markieren. Eine andere Rolle spielen die Bösen, deren Aufgabe es ist, einerseits die Gegner zu attackieren und andererseits die Grenzen der eigenen Möglichkeiten auszutesten. Eine dritte Gruppe bilden die Moderatoren, welche immer wieder versuchen, zwischen den unterschiedlichen Positionen zu vermitteln und Brücken zu bauen. Diese Charakterisierungen der einzelnen Player sind zwar idealtypisch, aber in diverser Ausprägung überall zu beobachten. Mich als spielaffinen Bundeshausredaktor (für Leserinnen und Leser in Deutschland: Parlamentsberichterstatter) faszinierten die Rollenspiele in National- und Ständerat immer wieder. Als solche betrachtet, liessen sich die parlamentarischen Abläufe auch leichter durchschauen und beschreiben. Und auf der Meta-Ebene eines Rollenspiels waren selbst träge Debatten noch von einem gewissen Unterhaltungswert.

Parteien und Fraktionen wollen die Politik nach ihren Vorstellungen gestalten. Dafür brauchen sie Mehrheiten, für die es in unserem politischen System Koalitionen braucht. Wie schwierig es ist, solche zu schmieden, weiss jeder, der in einem komplexen Strategiespiel auf die Unterstützung von Mitspielenden angewiesen war, um zum Erfolg zu kommen. Wie weit darf ich meinen eigenen Willen durchsetzen, ohne jene zu verärgern, um deren Hilfe ich buhle? Wo nehme ich meine eigenen Ziele zurück und lasse den anderen den Vortritt? Wann ist der Moment gekommen, alle Rücksichten aufzugeben, um am Schluss doch noch als Erster durchs Ziel zu gehen?

Wie das Amen in der Kirche

Politik besteht nicht nur aus Debatten in gesetzgebenden Versammlungen. Ebenso wichtig sind Verhandlungen um Vereinbarungen oder Verträge. Ob zwei oder mehrere Partner an einem Tisch sitzen, um ein beide Seiten möglichst befriedigendes Ergebnis zu erzielen: Taktik ist immer dabei. Wenn immer ich Berichte über den Verhandlungsmarathon zwischen der Schweiz und der Europäischen Union las, kam mir das vor wie ein Kartenspiel. Ich sah die beiden Delegationen vor mir, wie sie die Karten verdeckt vor sich halten, steinerne Mienen, Pokerfaces, dem Gegenüber ja nichts über die eigene Hand verraten, ihre starken Trümpfe, mit denen man das Spiel auf seine Seite drehen würde, aber auch die schwächeren Karten, die man im Verlauf der Partie problemlos abwerfen konnte. Und ich konnte mir als Liebhaber von Kartenspielen auch sehr wohl vorstellen, wie wichtig es war, den richtigen Zeitpunkt für das Ausspielen der wichtigsten Karten zu erwischen. Wenn man den selbst bei einem einfachen Kartenspiel verpasst, ist die Chance vorbei. So musste es auch in Brüssel zugegangen sein. Als ich einmal Staatssekretär Jakob Kellenberger, den Schweizer Delegationsleiter, darauf ansprach, sagte er mir, der Vergleich sei gar nicht abwegig. Er habe die Verhandlungen teils ähnlich erlebt.

Wenn Brüssel neue Forderungen auf den Tisch legt und in der Schweiz Sonntagspresse und Parteien gleich hyperventilieren, ein pawlowscher Reflex, ist das ein gravierender Fehler. Denn wer die Nerven früh verliert, wird nie als Sieger vom Platz gehen. Bluffen ist ein Teil der Verhandlungstaktik. Kartenspieler wissen, dass dies zum Spiel gehört wie das Amen in der Kirche, und lassen sich deswegen nicht ins Bockshorn jagen. Politiker sollten von ihnen lernen.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied. Als solches nicht an der aktuellen Wahl beteiligt. Befasst sich mit dem Thema «Spielen – mehr als nur Unterhaltung».

Zum Infosperber-Dossier:

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Spielen macht Spass. Und man lernt so vieles. Ohne Zwang. Einfach so.

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