Kommentar

Der Spieler: Die Einfachheit als Erfolgsgeheimnis

Synes Ernst ©

Synes Ernst. Der Spieler /  Das Kartenspiel «6 nimmt!» feiert seinen 20. Geburtstag. Es ist der beste Beweis dafür, das Qualität nichts mit Grösse zu tun hat.

Als Spielekritiker werde ich immer wieder gefragt, welches Spiel ich persönlich am liebsten erfunden hätte? Seit 20 Jahren gibt es für mich nur eine Antwort: «6 nimmt!» Ehrlich, ich beneide den heute 72jährigen Spieleautor Wolfgang Kramer um dieses genial-einfache Kartenspiel. Und ärgere mich (wie wohl viele andere), dass ich nicht selbst die Idee dazu hatte. Aber eben, das macht den Unterschied zwischen einem Spieleautor und einem Spielekritiker aus. Er hat die Idee, wir schreiben darüber …

Auflage von 2,7 Millionen Exemplaren

«6 nimmt!» feiert dieser Tage seinen 20. Geburtstag. An der Internationalen Spielwarenmesse 1994 in Nürnberg hatte es am Amigo-Stand seine Premiere. Seither ist es weltweit in einer Auflage von über 2,7 Millionen Exemplaren erschienen. In der Gattung der Kartenspiele hat es sich als moderner Klassiker etabliert.

Das Geheimnis des Erfolgs von «6 nimmt!» ist seine Einfachheit. 104 Spielkarten, von 1 bis 104 nummeriert, das ist der Materialbestand, mehr nicht. Volle Konzentration auf das Wesentliche, kein grosser Spielplan, weder Ereignis- noch Aufgabenkarten, weder Spielfiguren, noch Zählchips, Timer oder Münzen. Mit dem Minimum an Material korrspondieren die leicht verständlichen Regeln, ebenfalls ein Minimum: Vier Kartenreihen liegen auf dem Tisch, von denen jede maximal aus fünf Karten besteht. Alle Spieler legen gleichzeitig jeweils eine ihrer insgesamt zehn Karten verdeckt vor sich ab. Anschließend werden die Karten aufgedeckt. Die niedrigste Karte wird zuerst an eine der Reihen angelegt, dann die zweitniedrigste usw. Dabei muss die Zahl auf der neu angelegten Karte grösser sein als die vorherige. Legt ein Spieler die sechste Karte in eine Reihe, dann muss er die ersten fünf Karten dieser Reihe an sich nehmen und erhält einen Strafpunkt für jeden Hornochsen, der auf den Karten abgebildet ist. Wer zuerst 66 Minuspunkte einsacken muss, hat verloren.

«6 nimmt!» kommt beim breiten Publikum auch deshalb an, weil man sofort losspielen kann, ohne dass man tiefgründige Überlegungen machen muss. Gerade beim Spiel in grösseren Runden (zwischen 5 und 10 Teilnehmenden) werden die besten Pläne immer wieder über den Haufen geworfen, so dass es sich gar nicht lohnt, irgendwelche Taktiken oder Strategien auszuhecken. Warum aber lassen sich auch Menschen, die sonst eher grosse Taktik- und Strategiespiele bevorzugen, immer wieder wie Gelegenheits- oder Wenigspieler von «6 nimmt!» faszinieren? Auch hier hat das Kramer-Spiel ein kleines Geheimnis: In jeder Runde werden mehrere kleine Spannungsbögen aufgebaut, deren Entwicklung alle Teilnehmenden mit höchster Aufmerksamkeit verfolgen. Und je näher der Moment kommt, in dem eine der vier Kartenreihen abgeschlossen wird (oder: die Blase platzt), desto banger die Frage: Bin ich der nächste, der dort anlegen und die verdammten Strafpunkte kassieren muss? Welch ein Aufatmen, wenn es den Nachbarn zur Rechten trifft und nicht mich, und manch einer, der von sich meint, er könne niemandem ein Härchen krümmen, ertappt sich dabei, wie ihn beim «6 nimmt!»-Spielen die nackte Schadenfreude packt: Spielspass pur!

Neue Qualitätsstandards

Wolfgang Kramer hatte «6 nimmt!» im Frühjahr 1993 dem damaligen Amigo-Redaktor Joe Nikisch vorgestellt. Der Prototyp trug noch den Titel «Heisse Ware». Nikisch erkannte das Potenzial des Kartenspiels auf den ersten Blick, wie er im Regelheft zur unlängst veröffentlichten Jubiläumsausgabe schreibt: «Schon nach der kurzen und bei Wolfgang Kramer immer präzisen Erläuterung der Spielidee fing ich Feuer. Ich brannte richtig darauf, das Spiel, dessen Idee mir sofort einleuchtete, auch zu spielen. Und die Begeisterung liess in keiner Weise beim Spielen nach, im Gegenteil, ich wollte mehr davon, und in meinem Kopf kreisten die Gedanken nur noch um das Spiel.» Der Spielmechanismus sei von Anfang geradlinig gewesen, «faszinierend und einfach nur genial gut», schwärmt Nikisch heute noch. Schwierigkeiten habe es allerdings bei der Wahl des Titels gegeben. Da man im Verlag befürchtete, ein allzu «diebisches» Thema könnte bei Eltern und Pädagogen Bedenken hervorrufen, wählte man schliesslich «6 nimmt!», also genau das, worum es in diesem kleinen Spiel geht.

Vor zwei Wochen habe ich an dieser Stelle «Russian Railroads» vorgestellt. Zwischen diesem Spiel und «6 nimmt!» könnte der Gegensatz nicht grösser sein: Hier das auf ein Minimum reduzierte «6 nimmt!», dort das bis hin zum Regelbestand üppig ausgestatte «Russian Railroads». So unterschiedlich beide Spiele sind, beide bieten ein Spielerlebnis auf höchstem Niveau und beste Unterhaltung. Es versteht sich offensichtlich, dass «6 nimmt!» einen viel einfacheren und leichteren Zugang bietet und sich deshalb an ein breiteres Publikum wendet als «Russian Railroads». Beiden aber ist gemeinsam, dass sie das Potenzial ihrer Gattung – des Kartenspiels bzw. des Workerplacement-Spiels – bis zum Letzten ausreizen und so auf ihre Weise neue Qualitätsstandards gesetzt haben oder setzen.


«6 nimmt!»: Ablegespiel mit Karten von Wolfgang Kramer für 2 bis 10 Spielerinnen und Spieler ab 9 Jahren. Spieldauer: etwa 45 Minuten. Amigo-Spiele (Vertrieb Schweiz: Carletto AG, Wädenswil). Fr. 12.–


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied. Als solches nicht an der aktuellen Wahl beteiligt. Befasst sich mit dem Thema «Spielen – mehr als nur Unterhaltung».

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