Kommentar

Sprachlust: Nicht weiterlesen! Lauter Tabuthemen

Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Daniel Goldstein /  Es funktioniert immer wieder: Wer gehört werden will, braucht nur ein Tabu zu brechen. Es reicht sogar, das bloss zu behaupten.

Haarausfall, Zuwanderung, Tod, administrativ Versorgte, Kindsmisshandlung; häusliche Gewalt, Jugendsuizid, Burnout, Impotenz, Lohn, Mundgeruch, Läuse, Automarke, Konsum harter Drogen, Steuererhöhung, Leistungsabbau, EU-Beitritt. Ich hatte Sie ja gewarnt, jetzt sind Sie doch damit konfrontiert worden: Die Liste entstammt der Schweizer Mediendatenbank (SMD) und enthält alles, was im Lauf eines Monats ausdrücklich als Tabuthema genannt wurde, in umgekehrter Reihenfolge des Auftretens. Mit je drei voneinander unabhängigen Nennungen führen der Tod, die Zuwanderung und der Lohn die Liste nach Häufigkeit an – und diese Themen stehen auch für drei Arten von Tabus.
Beim Tod (und dem zweimal genannten Jugendsuizid) geht es meistens um das angebliche Tabu, in der Öffentlichkeit darüber zu reden oder zu schreiben. Und in allen Fällen geht es darum, dass es jemand trotzdem getan hat. Vom einem Tabubruch ist dennoch nicht die Rede, denn das klänge tadelnd, während die Presseberichte eher loben, was da jemand gewagt hat: den Tod zum Thema einer Vortragsreihe zu machen, einer Ausstellung oder eines Theaterstücks (Martina Clavadetscher mit «My only friend, the end»). Dass Lukas Bärfuss mit «Koala» in der Liste nicht auftaucht, liegt nur daran, dass in der Presse nicht von «Tabuthema» die Rede war, obwohl er selber so zitiert wurde: «Selbstmord ist eine Kulturtechnik. Und ein Tabu.»
Jedem das Seine
Bei der Zuwanderung geht es nur um den Vorwurf an die Grünen, das sei für sie ein Tabuthema. Auch bei Steuern, Staatsleistungen und EU ist dieses Motiv im Spiel: Wer darüber reden will, macht andern den Vorwurf, die Diskussion über das Tabu zu verweigern. Hinter dem Tabu des Redens steckt (wie beim Suizid) das Tabu des Tuns. Um verbotenes Tun geht es sehr oft, wenn man die SMD sämtliche Tabu-Erwähnungen anzeigen lässt, nicht nur die mit «-thema» verbundenen.
Der Lohn schliesslich wird nur dann als Tabuthema genannt, wenn es um den eigenen geht; auch jener Manager, der seine Automarke nicht öffentlich erwähnt haben wollte, gehört in dieses Kapitel. Die umfängliche Liste medizinischer Probleme umfasst ebenfalls solche Tabus. Über die persönliche Pein reden manche nicht gern, während die allgemeine Erörterung der Krankheit kein Problem ist. Alle Beispiele im Berichtsmonat sollen denn auch Betroffene ermuntern, Hilfe zu suchen. Im Themenkreis der Misshandlungen liegt das Tabu gleichfalls viel stärker auf der persönlichen Betroffenheit als auf der generellen Diskussion.
«Tabu» und trotzdem Mode
Warum aber ist so oft von «Tabu» die Rede, wo es doch gerade um häufig öffentlich erörterte Belange geht? Der kürzlich beendete «Bund»-Essaywettbewerb zum Thema Tod – als «Schlafes Bruder» umschrieben – erbrachte eine Rekordzahl von Einsendungen. Er taucht nur deshalb nicht in der SMD-Liste auf, weil in der Berichterstattung «Tabu» ebenfalls umschrieben wurde. Auch Begleitthemen des Todes wie Sterbehilfe oder Organtransplantation sind oft in den Medien, und in der Literatur ist der Tod seit je ein Kernthema.
Wer dennoch von «Tabu» redet, tut es vielleicht als rituelle Einleitung, um sein Verständnis für jene zu markieren, die schockiert sein könnten. Oder aber, um sich interessant zu machen. Dieser Verdacht drängt sich vor allem dort auf, wo jemand Abhilfe für ein Tabuproblem anzubieten hat, gegen Mundgeruch etwa. Der ist allerdings im zwischenmenschlichen Verkehr durchaus ein Tabuthema. Öffentliche Tabuthemen im eigentlichen Sinn – Erörterung gesetzlich verboten oder gesellschaftlich streng verpönt – gibt es bei uns kaum noch. Eine Ausnahme ist die Strafnorm gegen «Störung der Glaubens- und Kultusfreiheit» sowie «Rassendiskriminierung». Sie betrifft auch Worte: Diese können – je nach Inhalt und Umständen – als Taten gelten, als Straftaten eben.
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlust»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor ist Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel» und schreibt für die Zeitung «Der Bund» die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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2 Meinungen

  • am 7.04.2014 um 13:24 Uhr
    Permalink

    Die Aufnahme eines Tabuthemas, am besten gleich verpackt in eine Volksinitiative, dem günstigsten und besten Mittel zur Selbstvermarktung und erst noch bezahlt vom Stimmbürger und Steuerzahler, ist Ausdruck von schwerem Narzissmus, des ganz grossen Tabuthemas der Menschheitsgeschichte.

  • am 7.04.2014 um 13:28 Uhr
    Permalink

    Fast vergessen: Ein gutes Stück, Daniel Goldstein!

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