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Elham Manea: «Gaddafis Mord war Zeichen, dass etwas schief läuft.» © Jos Schmid, UZH

Arabellion: «In Libyen wird Öffnung lange dauern»

Thomas Gull und Roger Nickl /  Elham Manea, Politikwissenschafterin, gebürtige Yemenitin und Dozentin an der Uni Zürich, beurteilt Chancen der Arabellion. (2)

Red. Länder wie Tunesien und Ägypten hätten ganz andere Voraussetzungen, mit der Zeit eine offenere Gesellschaft zu werden, als Länder wie Libyen, Syrien, Jemen oder Bahrain, sagt Elham Manea.
Ägypten und Tunesien seien alte Staaten mit relativ homogenen Gesellschaften und einer starken nationalen Identität.
Dagegen seien Libyen, Syrien, Jemen und Bahrain erst im 20. Jahrhundert entstanden und von den Kolonialmächten geschaffen worden. In diesen Staaten sei das Nationalbewusstsein nur schwach ausgeprägt. Diese Gesellschaften seien vielmehr entlang ethnischer und konfessioneller Linien gespalten.
In diesem zweiten Teil beurteilt die Dozentin an der Universität Zürich die Lage in Libyen.

INTERVIEW

In Libyen hat man den Eindruck, die Demokratisierung des Landes komme voran.
Elham Menea: Wirklich?
Gemeinsam hat man sich von Gaddafi befreit. Es wurde demokratisch ein Parlament gewählt. Das Land verfügt über grosse Erdölressourcen. Das sind alles gute Voraussetzungen. Finden Sie nicht?
Ein Problem ist, dass die Milizen noch bewaffnet sind. Zudem ist der Staat sehr schwach. Und das Land ist sozial sehr heterogen. Es gibt verschiedene Regionen, die in Konkurrenz zueinander stehen. Und ich muss auch hier über Fragen der Gerechtigkeit sprechen: Die Verbrechen der Vergangenheit werden in Libyen nicht aufgearbeitet. Ohne Gerechtigkeit kann eine Gesellschaft aber nicht erfolgversprechend neu anfangen.
Gaddafi wurde exekutiert, ist das nicht auch eine Form von «Gerechtigkeit»?
Das war Mord. Er war das erste Anzeichen dafür, dass etwas schief läuft. Denn wenn man wirklich Gerechtigkeit will, hätte man Gaddafi vor Gericht bringen müssen. In Libyen ist wie gesagt das Öl wichtig. Wichtig ist auch die internationale Unterstützung, weil niemand will, dass das Land auseinander fällt. Aber nicht einmal die USA haben Kontrolle darüber, was im Land geschieht, wie der Fall des ermordeten US-­Botschafters zeigt. Wenn das der Ausgangspunkt für einen neuen Staat sein soll, dann haben wir wirklich ein Problem. Deshalb glaube ich, dass die Situation in Libyen nicht so gut ist, wie sie erscheinen mag.
Zumindest gibt es jetzt ein Parlament, das diese Heterogenität spiegelt, und es wurde eine Regierung gewählt. Das ist doch positiv?
Ja, das ist positiv. Das Land muss aber weiter geeint werden. Es braucht einen institutionellen Rahmen für die unterschiedlichen Kräfte innerhalb der Gesellschaft. In Libyen besteht keine Kultur des Konsenses und des Staatsbürgertums. Ein Kultur, in der man jemanden akzeptiert, auch wenn er nicht derselben Meinung ist wie man selbst.
Haben Sie den Eindruck, dass sich die arabische Welt von Grund auf verändert – wird sie offener und demokratischer?
Vieles ist noch offen. Die Transformationen, die jetzt stattfinden, können in verschiedene Richtungen gehen. Sie können sehr chaotisch laufen und möglicherweise die Staaten wieder in ihren alten Zustand zurückversetzen. Es ist aber auch ganz offensichtlich, dass sich ein Wandel vollzogen hat. Man hat den Eindruck, dass die Menschen sich vor den Mächtigen nicht mehr so fürchten wie früher.
Wie zeigt sich das?
Sie sprechen öffentlich über ihre Probleme. Das sieht man nicht nur auf Facebook und Twitter. Es zeigt sich auch in Zeitungsberichten und in der Art und Weise, wie auf der Strasse diskutiert wird. Da ist eine Art Empowerment festzustellen: Die Menschen nehmen ihr Schicksal selber in die Hand. Ich glaube, dieser Trend ist nicht umkehrbar. Die Frage ist, was aus den Kindern, die diese Veränderungen jetzt erfahren und miterleben, später einmal wird. Längerfristig wird sich vieles verändern in der arabischen Welt, doch nicht jetzt und auch nicht in den nächsten zehn Jahren.
Das heisst, wir müssen uns gedulden, aber das Potenzial für grössere Veränderungen ist da?
Ja. Vor den ersten Revolten waren viele Regierungen im Westen überzeugt, es sei wohl am besten, die arabischen Autokraten zu unterstützen. Sie glaubten, die Demokratie sei nicht geeignet für die arabische Welt. Niemand hat sich das, was danach passierte, vorstellen können – dieses Aufflackern einer Hoffnungsflamme. Während der Revolutionen in Tunesien und Ägypten gab es immer wieder Momente, in denen wir alle inspiriert und von Hoffnung erfüllt waren. Die Französische Revolution brauchte gut 100 Jahre, bis ihre Ideen verwirklicht wurden. Weshalb sollte das im arabischen Raum schneller gehen?

Dieses hier leicht gekürzte Interview erschien im Magazin der Universität Zürich.
Lesen Sie den ersten Teil: «Mehr Hoffnung in Tunesien als in Ägypten»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Elham Manea ist Privatdozentin für Politikwissenschaft an der Universität Zürich, Autorin und Menschenrechtsaktivistin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind vergleichende Politikwissenschaft, Gender und Politik, Demokratisierung und Zivilgesellschaften in den Staaten des Nahen Ostens und Nordafrikas. Manea stammt aus dem Jemen.

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