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«Im Kesseltreiben des Shitstorms hat man keine Chance»: Alexander Müller (37) © TA

Über Recht und Ethik eines Twitterabdrucks

Peter Studer /  Ein seltenes Ereignis: Der Tages-Anzeiger entschuldigt sich mit einem zweiseitigen Interview bei einem ehemaligen SVP-Politiker.

Leserinnen und Leser des «Tages-Anzeigers» staunten nicht schlecht: Am letzten Donnerstag auf der vollen Breite einer Doppelseite das vierspaltige Bild eines ernst dreinblickenden jüngeren Mannes im Regenmantel: Alexander Müller (37). Grosser Titel über der Doppelseite: «Ich erlebe seit letztem Sommer den sozialen Tod». Untertitel: «Der ehemalige Zürcher SVP-Lokalpolitiker Alexander Müller verlor nach einem Twitterabend im vergangenen Juni alles – Job, Parteizugehörigkeit, politische Ämter und einen Teil seines sozialen Umfelds.»Müller, ein pointierter Viel-Twitterer, der mitunter schneller schreibt als denkt, hatte im beschränkten Twitterformat (140 Anschläge für offenbar nicht sehr viele «followers») den erstaunlichen Satz in die Welt gesetzt:
«Vielleicht brauchen wir wieder eine Kristallnacht – diesmal für Moscheen».
Dazu im «Tages-Anzeiger» vom letzten Donnerstag der redaktionelle Textkasten auf der Doppelseite: «Der TA-Beitrag interpretierte Müllers Tweet als Forderung nach einer neuen Kristallnacht. Diese Interpretation ging zu weit.»

Das war eine erste Reueformel.
Im textlichen Hauptteil der Doppelseite, einem Austausch von Fragen des «Tages-Anzeiger»-Chefredaktors Res Strehle und Antworten von Alexander Müller, beteuert der Twitterer gleich zu Beginn, er habe «nie eine Kristallnacht gefordert, sondern [seiner] Besorgnis über den radikalen Islamismus Ausdruck verliehen. Mein Tweet war ein rhetorisches Mittel […] in der Abfolge mehrerer Tweets zu verstehen».
Fest steht, dass Müller den Kristallnacht-Tweet nach wenigen Minuten löschte, als er das Potenzial eines Missverständnisses realisierte. Heute wäre der Tweet vermutlich nur noch durch «Tiefenforschung» am ausländischen Server aufzufinden.
Aber bereits war der – vielleicht – Kristallnacht-Satz einer Redaktorin von «Tagesanzeiger.ch/Newsnet» zugetragen worden. Als sie Müllers Originalsatz nicht mehr fand, griff sie sich den Screenshot eines anderen Twitterers und beschuldigte den protestierenden Müller, er würde abstreiten, den Kristallnacht-Satz verfasst zu haben.
Zweiter Reuesatz
Die «Tages-Anzeiger»-Redaktion stellte fest: «Das war unzutreffend».
Dritter Reuesatz
«Der ‹Tages-Anzeiger› räumt selbstkritisch ein, dass Müller vorgängig zur Berichterstattung korrekt hätte angehört werden müssen» – und zwar vor der Publikation des Artikels.
Alexander Müllers Anwältin, die Medienrechtlerin Rena Zulauf, hatte mit einer – keineswegs aussichtslosen – Schadenersatzklage gedroht. Sie und Tamedia-Anwalt Simon Canonica betonen aber, es seien im Vorfeld der Doppelseite von letzter Woche «konstruktive Gespräche» geführt worden. Canonica unterstreicht überdies, dass die opulente Aufmachung der sorgfältig ausgehandelten Texte von der Redaktion beabsichtigt war. Sie habe damit die medienethische Dimension des «Falls» unterstreichen wollen.
Auf Strehles Frage nach dem Gefahrenpotential «sozialer Medien» antwortete der nach wie vor twitternde Müller, «Cybermobbing, Shitstorms und Identitätsklau» drohten latent.
Drei weitere Fussnoten dazu waren kurz darauf in der «NZZ am Sonntag» zu lesen:
1. Die Redaktorin und Verursacherin des Zwischenfalls habe am Abend des 24. Juni ihrerseits einen Tweet abgesondert – des Inhalts: «Ich schreib jetzt mal was über diese braunen SVP-Heinis».
Totale Preisgabe der Unbefangenheit, scheint mir.
2. «Tages-Anzeiger»-Chefredaktionsmitglied Peter Wälty liess sich mit der «redaktionsinternen Richtlinie» «shoot first, check later» zitieren, die allerdings «nur für Agenturmeldungen und zeitkritische Artikel» gelte – die ominöse Umkehr einer alten Devise der «New York Times»: «Be first, but first be right». Sollte doch eigentlich für alle Textsorten gelten, oder nicht? Jedenfalls immer, wenn Risikoverdacht besteht.
3. «Dem Vernehmen nach», so die «NZZ am Sonntag» weiter, «ist es das letzte Mal, dass Müllers Name in der Zeitung [i.e. «Tages-Anzeiger»] erscheint». Tamedia-Sprecher Christoph Zimmer gegenüber dem Sonntagsblatt: «Wir schätzen Alexander Müller nicht mehr als Person von öffentlichem Interesse ein, weshalb eine Namensnennung nicht mehr gerechtfertigt ist».
Achtung: Liefert jemand einen Bona-fide-Anlass für Berichterstattung, muss diese angemessen stattfinden können.
Chefredaktor Res Strehle hat definiert, was an Reue zu sagen war. Er unterstrich inhaltlich die alte Richtlinie 3.8. des Presserats:
«Betroffene sind vor der Publikation schwerer Vorwürfe anzuhören: ‹Deren Stellungnahme ist im gleichen Medienbericht kurz und fair wiederzugeben.’»
Alexander Müller ist Unrecht widerfahren. Unter den Abstrusitäten, die er in seinen Antworten auf der Doppelseite auch noch äussern durfte, möchte ich aber eine anders werten als Müller selbst: «Der Tweet [über die vielleicht wieder benötigte Kristallnacht] war keine Dummheit. Dumm ist vielmehr, dass man ihn zur Dummheit gemacht hat». Der Tweet für sich allein genommen (140 Zeichen!) ist so dumm wie jener auch schon gehörte, dass Folter vielleicht benötigt werde, um Verbrechen zu verhindern.
Aber bitte, Wertungen wie «dumm» oder «klug» sind frei.

Dieser Beitrag erschien im Medienspiegel.ch


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Peter Studer präsidierte den Schweizer Presserat. Er schreibt über Medienrecht und Medienethik.

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2 Meinungen

  • am 14.02.2013 um 21:55 Uhr
    Permalink

    Peter Studer ist nicht schlau. Er hat 10 Minuten lang eine Ungeheuerlichkeit in die Welt gesetzt und erst dann gelöscht. Dafür wurde er von allen massiv in die Pfanne gehauen. Sein Richter – Res Strehle – hat ebenso untolerierbaren extremistischen Quatsch abgesondert und ist immer noch in Amt und Würden

  • am 14.02.2013 um 22:03 Uhr
    Permalink

    Oops: Muss heissen Alex Müller ist nicht schlau.

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