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Prozess im Sitzungszimmer 140, Bezirksgebäude Zürich, 9.9.1958 © Wikimedia Commons

Der Prozess & das Urteil_Die Schiwoff-Affäre 9_10

Jürgmeier /  «Geben Sie mir 5 Franken für das Porto, dann ist die Sache erledigt … Wir finden das nicht in Ordnung, wiemers ine gmacht hätt.»

Red. Am 19. Dezember 1956 wurde der VPOD-Sekretär Victor Schiwoff verhaftet, später «wegen unwahrer Behauptungen gegen die Interessen der Schweiz zu einem Monat bedingt verurteilt» (Historisches Lexikon der Schweiz), sowohl aus der Sozialdemokratischen Partei und der Gewerkschaft VPOD ausgeschlossen. Sechzig Jahre danach publizieren wir auszugsweise die ihn betreffenden Fichengeschichten aus dem Buch «Staatsfeinde oder SchwarzundWeiss – Eine literarische Reportage aus dem Kalten Krieg» von Jürgmeier als Serie.

  • Hier finden Sie alle Folgen der Serie «Die Schiwoff-Affäre – vor 60 Jahren»

9. September 1958: Der Prozess

Er ass längst das Griess des verurteilten Landesverräters, als am 26. November 1957 erstmals Anklage erhoben wurde. Vorgängig, am 26. März, hatte die schweizerische Landesregierung dem Antrag des damaligen Vorstehers des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartementes, Feldmann, stattgegeben, die «Ermächtigung zur Strafverfolgung» erteilt und Untersuchung sowie Beurteilung der Akte S. – der, offensichtlich, nationale Bedeutung beigemessen wurde – den Strafverfolgungsbehörden des Kantons Zürich übertragen. Und zwar «betreffend Hervorrufung oder Unterstützung gegen die Sicherheit der Schweiz gerichteter ausländischer Unternehmungen oder Bestrebungen (Art. 266bis StGB), politischen Nachrichtendienst (Art. 272 StGB) und allenfalls wirtschaftlichen Nachrichtendienst (Art. 273 StGB)».
Obwohl sich der zuständige Zürcher Bezirksanwalt Bertschi – der 1968 als Polizeikommandant der Stadt Zürich auf dem Balkon des bahnhofsnahen Hotels Du Nord, krawallierende Jugendliche und prügelnde Polizisten zu seinen Füssen, den für schweizerische Verhältnisse legendär gewordenen Ausspruch getan haben soll: «Jezt vertätschtsi mi dänn!» –, obwohl sich Bertschi 1958 auf die Gefährdung der schweizerischen Sicherheit durch ausländische Unternehmungen und politischen Nachrichtendienst beschränkte, den wirtschaftlichen Nachrichtendienst als Anklagepunkt von vornherein fallen liess – schliesslich hatte sich S. die Informationen über die Schweizer Wirtschaft nicht durch Werkspionage, sondern durch kommunes Zeitungslesen angeeignet –, setzte das Bezirksgericht Zürich am 11. Februar 1958 den Entscheid über die Anklage gegen S. aus und gab dem womöglich einigermassen verdatterten Bezirksanwalt die Akten zurück, zwecks Ergänzung der Untersuchung und Abänderung der Anklage, die er gehorsam umformulierte, aber nicht substanziell veränderte.
So kam es erst am 9. September 1958, beinahe zwei Jahre nach seiner Verhaftung, zum Prozess gegen S., der sich nachmittags um 15.00 Uhr im Sitzungszimmer 140, Bezirksgebäude Zürich, Badenerstrasse 90, 1. Stock, einzufinden hatte. Nach eigener Aussage vierzig Jahre später hatte er damals keine Angst vor einem harten Urteil. Eigentlich sei das Ganze für ihn schon «ausgestanden» gewesen. Er hoffte sogar – weil die ursprüngliche Anklage weitgehend in sich zusammengefallen gewesen sei – auf einen Freispruch, habe sich aber von FreundInnen sagen lassen müssen, das sei politisch undenkbar, nach der ganzen Aufregung. Der Bezirksanwalt beantragte sechs Monate Gefängnis. Die dreissig, vierzig Leute hinter ihm im Saal – «Freunde von mir, auch PdA-Leute, und Fremde, die ich nicht kannte» – hätten alle herzlich gelacht, als sich sein Anwalt – der seinen Mandanten S. als politischen Wirrkopf einstufte – über die, so S., «hirnverrückte, stupide Argumentation der Anklage» mokierte, er, S., habe mit der «Anschwärzung der schweizerischen Grossbourgeoisie und der rechtsgerichteten Sozialdemokratie bei den Ungarn das Gefühl erzeugen wollen, sie müssten die Waffen gegen die Schweiz erheben».

«… sind wir am Ende alle Landesverräter …»

Die Bezirksanwaltschaft hatte die von den Bundesbehörden vorbereitete Argumentation integral übernommen – das sogenannte Oeconomicus-Papier, das die Grundlage aller Vorwürfe gegen S. bildete, könne «von einem mit den schweizerischen Verhältnissen nicht näher vertrauten Leser bestimmt nur so aufgefasst werden, dass auch die schweizerische Regierung aus den von S. genannten Motiven bewusst Handlangerdienste für amerikanische Weltherrschaftspläne leiste». Wer, wie S., die obersten Landesbehörden «der Unterstützung aller Bestrebungen des Westens zur Organisierung eines Kreuzzuges gegen den Kommunismus, gegen die Völker der Sowjetunion und der Volksdemokratien … beschuldigt, der gibt dem Adressaten unmissverständlich zu verstehen, dass er Abhilfe der gerügten Zustände erwartet.» Im Klartext: militärische Intervention. Als Beweis zitierten die Ankläger aus S.‘ Papier. «Die feindselige und aggressiv-provozierende Politik in Bezug auf die Sowjetunion und die Volksdemokratien, das Verbot der kommunistischen Partei im eigenen Lande und die Zurückweisung aufrechter Antifaschisten in den sichern Tod während des letzten Weltkrieges sind der Ausfluss jener engen Trust-Verbindungen zwischen den beiden Ländern (1) … Weil daher die Vorbereitung eines Krieges und die damit zusammenhängende wirtschaftliche Strukturänderung durch eine bis zum Siedepunkt gesteigerte Kriegshysterie in den breiten Volksmassen bedingt ist, deshalb betreiben die interessierten Kreise der Hochfinanz die gewaltige Hetze gegen die Sowjetunion und die Volksdemokratien …»

Sein Anwalt, berichtet S. schmunzelnd, habe die ganze Anklageschrift lächerlich gemacht, «verrupft», dem Bezirksanwalt – der auf ein mündliches Plädoyer verzichtet, sich ganz auf seine schriftlichen Ausführungen verlassen und nur für ergänzende Fragen des Gerichtes zur Verfügung gehalten habe – auf den Kopf zu gesagt, er habe, wohl, «nicht mehr alle Tassen im Schrank», und dem Gericht habe er am Schluss seiner «sehr guten Rede» zugerufen, wenn die Argumentation des Anklägers zutreffe, «sind wir am Ende alle Landesverräter». S. grinst – «und das von einem freisinnigen Anwalt von der Bahnhofstrasse». S., der in seinem Schlusswort erklärte, sich keiner Schuld bewusst zu sein, erhielt das Urteil, wie alle Beteiligten, schriftlich zugestellt und musste lesen: «Gefunden und erkannt: 1. Der Angeklagte ist schuldig im Sinne des Art. 266bis StGB des Inverbindungtretens mit einem fremden Staate mit dem Zwecke, ausländische gegen die Sicherheit der Schweiz gerichtete Bestrebungen hervorzurufen. Eines weiteren Vergehens ist er nicht schuldig. 2. Er wird verurteilt zu einem Monat Gefängnis, wovon zwei Tage als durch Untersuchungs- und Sicherheitshaft erstanden gelten. 3. Der Vollzug der Freiheitsstrafe wird aufgeschoben und die Probezeit auf drei Jahre festgesetzt.»

Als ob nichts gewesen wär …

Ende der Fünfzigerjahre nahm auch in Gewerkschaftskreisen kaum jemand Kenntnis von diesem Urteil, davon, dass die Anklage gegen den 1956 als Spion, Landesverräter und Denunziant durch die Schweizer Gazetten gezerrten S. in wesentlichen Punkten abgewiesen wurde. «Schuldspruch und Strafmass sind als nicht mehr denn als Sühne für eine moralische Schuld aufzufassen, nachdem es nicht gelungen ist, den Angeschuldigten eines Verbrechens gegen den Staat oder die Landesverteidigung zu überführen», kommentierte die Tat. Aber keiner von S.‘ ehemaligen Kollegen – die ihn vor Beginn des Gerichtsverfahrens abgeurteilt hatten – entschuldigte sich. Alle schwiegen, schüttelten dem später zum VPOD Zurückkehrenden bei entsprechender Gelegenheit die Hand – als ob nichts gewesen wär. Erst auf dem Sterbebett, viele Jahre später, womöglich durch S.‘ Blumenstrauss beschämt, überkam es Kollege Richard M. – der noch am 5. Januar 1957 behauptet hatte, S. sei bis zu seiner Verhaftung in Spionageaktivitäten verwickelt gewesen, was Bundesanwalt Dubois nur zwei Tage später persönlich und eindeutig als «Unwahrheit» qualifizierte –, der ehemalige SP-Nationalrat und Chef der PTT-Union murmelte, in S.‘ Erinnerung: «Ich habe damals vielleicht schon ein wenig danebengehauen, aber, gäll, du nimmst es mir nicht übel?» Wer verweigert schon einem Sterbenden die Hand? Der versöhnliche S. – der am Ende doch noch seinen grossen Traum, Kommunist und Gewerkschaftssekretär in einem zu sein, hatte verwirklichen können – sicher nicht.
Als er 1958 an der Gerichtskasse seine Schulden begleichen wollte – «Die Gerichtsgebühr», hatten die Richter verfügt, «wird festgesetzt auf Fr. 150.–; die übrigen Kosten betragen: 3.– Vorladungsgebühren, 27.– Schreibgebühren, 5.20 Porti und Zustellungen, 1.80 Untersuchungskosten» – und das Portemonnaie gezückt, habe der zuständige Beamte ihm zugeraunt: «Geben Sie mir fünf Franken für das Porto, dann ist die Sache erledigt.» Da er, S., nicht grad verstanden, wahrscheinlich ziemlich baff ins Zürcher Bezirksgebäude hinaus geglotzt, habe der subalterne Staatsdiener erklärt: «Wir hier finden das nicht in Ordnung, wiemers ine gmacht hätt.»

  • Der nächste Teil der Serie «Die Schiwoff-Affäre – vor 60 Jahren» erscheint in wenigen Tagen.

(1) Deutschland und Schweiz

Victor S.: Victor Schiwoff, geboren am 22. November 1924 in Meiringen. Der Vater war Russe, die Mutter Polin; beide schlossen ihr Medizinstudium in Zürich ab. Kurz vor Matura-Abschluss wurde Victor Schiwoff vom Militär einberufen – 300 Aktivdiensttage. 1945 als jüngstes Parteimitglied bei der Gründung der Partei der Arbeit dabei. 1946 den Matura-Abschluss nachgeholt. 1947 bis 1951 Studium mit Abschluss als Dr. rer. pol. Nach verschiedenen Tätigkeiten 1954 erste Arbeiten für den VPOD, u.a. die Studie zum 50-Jahr-Jubiläum «Das Mitsprache- und Mitbestimmungsrecht des Arbeitnehmers im öffentlichen Dienst», 1955 Wahl zum Sekretär der VPOD-Sektion Luftverkehr, 1956 die sogenannte «Schiwoff-Affäre», mit Ausschluss aus VPOD. Nach einer kurzen Zeit der Stellenlosigkeit verschiedene Arbeiten, u.a. als Hilfsmaler und Packer in einer Buchhandlung. 1960 bis 1971 Redaktor beim «Vorwärts» in Genf, wo er als Mitglied der PdA in den Gemeinderat von Meyrin und in den Grossrat des Kantons Genf gewählt wurde. 1971 bis zu seiner Pensionierung 1989 Zentralsekretär VPOD, in Zürich. Am 5. April 2006 gestorben.

Elsi S.: Elsi Schiwoff, geborene Wettstein. Am 3. Januar 1925 in Meilen geboren. Ausbildung: Handelsmatura in Neuenburg, Latein-Matur in Zürich, Diplom für französische Sprache und Zivilisation an der Sorbonne in Paris. Tätigkeit als Verwaltungsangestellte in Treuhandbüros, Wohn-Bau-Genossenschaft und Gewerkschaft GBI. Politisches Engagement: hauptsächlich in Genf-Cointrin. Am 20. März 2004 gestorben.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Das Buch «Staatsfeinde oder SchwarzundWeiss – Eine literarische Reportage aus dem Kalten Krieg» von Jürgmeier ist 2002 im Chronos-Verlag, Zürich, erschienen.

Zum Infosperber-Dossier:

Cover_Staatsfeinde

Die Schiwoff-Affäre – vor 60 Jahren

Am 19.12.56 wird VPOD-Gewerkschafter Victor Schiwoff verhaftet. Eine Fichengeschichte aus dem Kalten Krieg.

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Eine Meinung zu

  • am 2.01.2017 um 13:20 Uhr
    Permalink

    Natürlich hatte Schiwoff Pech, dass seine Verbindung zum Rakosi-Regime gerade dann entdeckt wurde, als das Regime wirklich keine Fürsprecher mehr hatte – dumm gelaufen! Aber ein «politischer Wirrkopf» war er sicher nicht (da war der freisinnige Anwalt sicherlich dümmer als Schiwoff – keine Empfehlung für den Freisinn). Denn politisch behielt er ja Recht: via Gewerkschaften wuchsen Sozialdemokraten und Kommunisten tatsächlich wieder zu einer ideologischen Einheit zusammen.

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