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Mohamed Abdelaziz, 40 Jahre lang Regierungschef eines Phantomstaates © cc

Er kämpfte, wo Völkerrecht seit Jahren nicht gilt

Urs P. Gasche /  Nach dem Tod von Mohamed Abdelaziz, Präsident der Phantom-Republik Westsahara, könnte sich der Frente Polisario radikalisieren.

Seit 25 Jahren Jahren versucht die Uno in Westsahara eine Volksabstimmung durchzuführen, damit die Sahrauis über ihre Unabhängigkeit selber bestimmen können. Vierzig Jahre lang war Mohamed Abdelaziz Regierungschef der de facto nicht existierenden «Demokratischen Arabischen Republik Sahara», lebte jedoch bescheiden auf algerischem Boden im Flüchtlingslager bei Tindouf. Diese Woche ist er im Alter von 68 Jahre gestorben. Da die jüngere Bevölkerung der Flüchtlings-Camps desillusioniert ist, könnte sich die Befreiungsbewegung Frente Polisario radikalisieren und wieder den bewaffneten Kampf aufnehmen. Das ist jedenfalls die Einschätzung des NZZ-Afrika-Spezialisten David Signer.
«Beharrlich vernachlässigtes Thema»
NZZ und WOZ waren in der Deutschschweiz die einzigen Zeitungen, welche über den Tod Abdelaziz berichteten. «Das Drama in der Westsahara gehört zu den beharrlich vernachlässigten Themen», sagt der langjährige Maghreb-Korrespondent Alexander Gschwind. Aus diesem Grund hat er diesen «Palästinensern Nordafrikas» in seinem kürzlich erschienenen Buch «Diesseits und jenseits von Gibraltar»* ein ganzes Kapitel gewidmet.

«Erschreckende Parallelen»

Die Parallelen mit den Palästinensern seien «erschreckend», auch wenn die Palästinenser viel mehr Aufmerksamkeit erregen: «Mehr als 150’000 Sahrauis waren im November 1975 vor der marokkanischen Invasion geflohen und leben seither unter erbärmlichen Verhältnissen in riesigen Flüchtlingslagern im algerischen Exil.» Ausser ein paar kleinen Hilfswerken würde sich niemand mehr für ihr Schicksal interessieren.

Den Uno-Resolutionen folgen keine Taten

Die Uno würde zwar alle paar Jahre mit einer Resolution das Recht auf Selbstbestimmung der Sahrauis bestätigen: «Aber den Worten folgen keinerlei Taten, weil Marokkaner und Franzosen die besseren Freunde auf der Weltbühne haben.» Deshalb sei auch der im Jahr 1991 von allen Beteiligten gebilligte Uno-Friedensplan für die Westsahara bis heute toter Buchstabe geblieben. Er sah eine international überwachte Volksbefragung über die politische Zukunft des Gebiets vor. Marokko und seine Schutzmächte wie Frankreich hätten die Umsetzung des Friedensplans immer wieder mit Erfolg hintertrieben.

«Schlimmer als in palästinensischen Lagern»

Ende der Siebzigerjahre hatte Alexander Gschwind zum ersten Mal Flüchtlingslager der Sahrauis besucht: «Was wir dort antrafen, war unendlich viel schlimmer als alles, was ich zwei Jahre zuvor in palästinensischen Lagern im Libanon und in Syrien gesehen hatte.»

Auch fast vierzig Jahre später lebten in den Lagern von Tindouf (Algerien) inzwischen fast eine Viertelmillion sahrauische Flüchtlinge ohne realistische Hoffnung auf Heimkehr. Alle Lösungsversuche für eine Heimkehr seien «immer wieder an der Unnachgiebigkeit der marokkanischen Besatzer gescheitert, die sich über sämtliche Resolutionen der Uno hinwegsetzten – wie die Israelis gegenüber den Palästinensern.» Da nützte auch das Ausrufen einer sahrauischen Exil-Republik in den Lagern von Tindouf nichts.

Gravierende Folgen von Unterernährung

In den weitgehend alleingelassenen Flüchtlingslagern litten viele an jahrelanger Mangelernährung. Alexander Gschwind zitiert zwei Ärzte, die für «Médecins sans frontières» den Gesundheitszustand der Flüchtlinge untersuchten: Innert einer Generation hat die durchschnittliche Körpergrösse um zehn Zentimeter abgenommen, ihr durchschnittliches Körpergewicht sogar fast um einen Drittel.

Der Mangel an Vitaminen und Eiweiss hat verheerenden Spuren hinterlassen. Gschwind begegnete auch einem Augenarzt aus Lyon, der jedes Jahr einen Ferienmonat im Lager von Rabouni verbrachte und dort Dutzende von Augenleiden operierte, die er vorwiegend auf Eiweissmangel zurückführt. Im Gepäck hatte er jeweils möglichst viele kleine Rahmkäse der legendären Marke «La vache qui rit», die er den Kindern zusteckte.

Unmut in Spanien

Gschwind berichtet auch von Dutzenden von Lehrern aus Spanien, die mit spanischem Schulmaterial die spanische Sprache unterrichten. Bis heute seien in der spanischen Bevölkerung Wut, Scham und Unverständnis über den überstürzten Abzug aus der Westsahara verbreitet. Der frischgebackene und überforderte Franco-Nachfolger König Juan Carlos habe die Sahrauis den marokkanischen Invasoren ausgeliefert. Allerdings habe Washington dem König mit einem Waffen- und Munitions-Lieferstopp gedroht, falls er sich einer marokkanischen Besetzung widersetzen sollte. In der Westsahara liegen grosse Phosphatminen und in den Küstengewässern gibt es reiche Fischbestände, deren Ausbeutung bis heute zwischen Marokko, Spanien und der EU umstritten seien. Seit zehn Jahren würden auch Offshore-Ölvorkommen vermutet.
Noch immer nähmen rund zweitausend spanische Gastfamilien jedes Jahr ein Flüchtlingskind für einen Monat bei sich auf. Besonders stark sei die Solidaritätsbewegung mit den Sahrauis auf den benachbarten Kanarischen Inseln, wo man sich mit den ehemaligen Landsleuten bis heute aufs Engste verbunden fühle.

Verantwortung der Weltöffentlichkeit

Seit vierzig Jahren kann die Monarchie in Marokko ihre völkerrechtswidrige Besatzungspolitik in der Westsahara nahezu unbehelligt durchziehen. Schuld daran sei die «Komplizenschaft der marokkanischen Zivilgesellschaft». Selbst sonst noch so kritische Oppositionelle und Intellektuelle würden sich «an der systematischen Tabuisierung dieses Themas beteiligen, oft mit demselben Chauvinismus, nicht selten auch Rassismus wie die Propagandisten des marokkanischen Königs».
Eine «Riesenverantwortung» trage allerdings auch die Weltöffentlichkeit. Anders als bei andern Konflikten «mahnt bezüglich der Westsahara so gut wie niemand die Durchsetzung des Völkerrechts und der Uno-Beschlüsse an».
Auch unsere Medien berichten praktisch nie über das Schicksal dieser über 200’000 Flüchtlinge. Eine löbliche Ausnahme war eine Reportage von David Signer im März 2014 in der NZZ und jetzt wieder sein Bericht über den «Tod eines Präsidenten ohne Staat».
Selbst die grossen Menschenrechtsorganisationen und Hilfswerke hätten die Sahrauis längst aus ihrem Blickfeld verloren, stellt Gschwind fest: «Mit diesem vergessenen Volk lassen sich weit weniger spektakuläre Spendenkampagnen führen als mit medial weit ‹dankbareren› und ‹prominenteren› Dramen rund um den Erdball.»

Petiton an den Uno-Sicherheitsrat
In der Schweiz fordert das «Comité suisse de soutien au peuple sahraoui» gegenwärtig mit einer Petition den Sicherheitsrat der Uno einmal mehr auf, das schon längst beschlossene Referendum für die Selbstbestimmung der Westsahara endlich durchzuführen. Die Sammlung der Unterschriften dauert vom 1. Januar bis 15. August 2016.
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Weitere Infos:

Décès du président sahraoui: plusieurs pays rendent hommage à un «grand combattant» (Algérie Presse Service)
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*«Diesseits und jenseits von Gibraltar»
Alexander Gschwind ist Autor des Buches «Diesseits und jenseits von Gibraltar» (33.80 CHF). Wer sich für die Länder Spanien, Portugal, Marokko, Algerien oder Tunesien interessiert, findet in diesem Buch nötiges Hintergrundwissen. Es ist spannend zu lesen dank persönlichen Erlebnissen, leicht erfassbaren historischen, kulturellen und politischen Zusammenhängen, aufgelockert mit Fragen an den Autor, Lexika-Teilen und Fotos.

    Weiterführende Informationen


    Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

    Keine. Den zweiten Teil dieses Berichts hatte Infosperber bereits am 20. Januar veröffentlicht.

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