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Demokratische Institutionen werden unterschwemmt © greenpeace

Jahrhundertprobleme überfordern unsere Demokratie

Urs P. Gasche /  Ob Wahlen alle paar Jahre oder Volksabstimmungen über Sachfragen: Die Institutionen aus dem letzten Jahrhundert genügen nicht mehr.

Die demokratischen Spielregeln in westlichen Industriestaaten erfordern dringend einen Stresstest. Denn die heutigen Institutionen sind offensichtlich nicht mehr in der Lage, die Bevölkerungen vor drohenden Gefahren rechtzeitig zu schützen und zukunftsverträglich Entscheide zu fällen.
Hier greifen wir einige ungelöste Probleme heraus, vor denen die nationalen Parlamente und Regierungen kapitulieren, und die sie deshalb aus ihrem öffentlichen Diskurs verdrängen.

Die Migration: Die westlichen Demokratien beschäftigten sich mit den Symptomen, welche die Flucht aus der Armut nach sich zieht, beseitigen jedoch nicht deren Ursachen. Ein Beispiel: Westliche Staaten überschwemmen Afrika mit Agrar- und Fleischprodukten, die sie mit Milliarden subventionieren. Gleichzeitig verbieten Weltbank und Weltwährungsfonds den armen Ländern, ihre lokale Produktion gegen die hoch subventionierten Importe zu schützen. «Das europäische Subventionsvieh frisst den Hungernden im Süden das Essen weg», konstatierte ein Afrika-Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung.
Die Steuerflucht in Steueroasen stiehlt den Entwicklungsländern über 170 Milliarden Dollar an Steuereinnahmen – jedes Jahr1 (Quelle: Oxfam Breefing Paper vom 14. März 2016). Die demokratischen Institutionen schaffen es nicht, diese Steueroasen auszutrocknen.

Ein drohender Finanzkollaps: Offensichtlich überfordert sind die Demokratien auch damit, das internationale Finanzsystem so zu regulieren, dass das Risiko eines folgenschweren Crashs auf ein Minimum reduziert wird. Unter dem Einfluss der mächtigen Finanzlobby legten die Parlamente ihre Hände weitgehend in den Schoss. Mehr noch: Aus Bequemlichkeit begrüssen sie es sogar, dass die Notenbanken ihre Geldschleusen auch noch Jahre nach dem Beinahe-Crash von 2007/2008 politisch unkontrolliert öffnen.
Die Folge: Staaten und Wirtschaft sind heute noch stärker verschuldet als vor und nach dem Fast-Kollaps von 2007/2008. Die weltweiten, globalen Schulden, private und öffentliche zusammen, erreichen etwa 220 Billionen Dollar. Diese Summe ist das Zweieinhalbfache des weltweiten Bruttoinlandprodukts in Höhe von 88 Billionen Dollar.
Zehn Jahre nach der letzten Krise sind Grossbanken und Versicherungskonzerne noch immer «Too big to fail». Sie haben ihr Konkurs-Risiko sozialisiert und dürfen trotzdem ein Finanzcasino betreiben, ohne Nutzen für die Volkswirtschaften. Allein die Devisengeschäfte haben ein Volumen, das fast 70mal grösser ist als das Volumen des gesamten Welthandels mit Gütern und Dienstleistungen. Sie sind zu einem Wettgeschäft verkommen.
Der weltweite Nennwert ausserbörslicher Finanzderivate wie Optionen oder CDS («Kreditausfallversicherungen», in den meisten Fällen ohne einen zu versichernden Kredit!) hat gigantisch zugenommen2. Der Nennwert aller Derivate, inklusive der an den Börsen gehandelten, übersteigt heute das Welt-Bruttoinlandprodukt um rund das Zehnfache. Wiederum vorwiegend Wettgeschäfte, ohne Nutzen für die reale Wirtschaft.
Diese Zahlen müssten längst Alarm auslösen. Doch Regierungen und Parlamente der Industriestaaten sind weder fähig, dieses Finanzcasino zu schliessen, noch geordnete Abschreiber auf den Staatsschulden zu organisieren.

Die Steuerkrise: Unternehmen wie Amazon, CocaCola, Facebook, Fiat, Google, Ikea oder McDonald’s prellen ihre Standortländer Jahr für Jahr um Milliarden an Steuern, indem sie ihre Gewinne in praktisch steuerfreie Länder verschieben. Spätestens seit den Enthüllungen der «Panama Papers» und neustens der «Paradise Papers» sollte dies allen Politikerinnen und Politikern klar sein. Die in Steueroasen unversteuerten Vermögen von Konzernen und Milliardären werden auf mindestens sieben Billionen Dollar geschätzt. Das entspricht annähernd einem Zehntel der globalen Wirtschaftsleistung. Den Herkunftsländern entgehen jedes Jahr Milliarden3.

Doch die demokratischen Institutionen zeigen sich unfähig, diese gigantische Steuerumgehung zu stoppen. Sie besteuern und verteuern weiterhin die menschliche Arbeit, verschonen Kapitalgewinne und sind unfähig, Steueroasen auszutrocknen.

Ein völlig verzerrter «Markt»: Markt und Wettbewerb funktionieren über die Höhe der Preise. Doch die meisten Preise im Welthandel und auch im Inland spiegeln schon längst nicht mehr die Kosten. Milliardenschäden in der Umwelt werden nicht den Verursachern belastet, sondern ohne Hemmungen grosszügig sozialisiert. Weniger der Staatssozialismus ist heute das Problem, sondern vielmehr der Sozialismus der Konzerne.
Ebenso enorm verfälscht wird das Preisgefüge durch Milliarden von Subventionen. Unsere demokratischen Institutionen sind nicht mehr in der Lage, diesen subventionierten Sozialismus gegen die Interessen der Profitierenden abzuschaffen:

  • Trotz (Lippen-)Bekenntnissen, die Klimaerwärmung bremsen zu wollen, werden Konzerne, die mit fossilen Brennstoffen handeln, nach Schätzungen der konservativen Internationalen Energieagentur IEA jedes Jahr mit rund 500 Milliarden Franken subventioniert. Dazu kommen die Schäden, welche diese Branche durch den Klimawandel verursacht.
  • Das deutsche Umweltbundesamt errechnete, dass der Autoverkehr in Deutschland, wenn man Umweltschäden und Unfälle miteinberechnet, die Allgemeinheit jedes Jahr 59 Milliarden Euro mehr kostet, als der Fiskus über autobezogene Steuern einnimmt. Subventionen wie die Abwrackprämien kommen noch dazu. In der Schweiz verursacht der Strassenverkehr externe, also sozialisierte Kosten von 7,7 Milliarden Franken4. Etwa gleich stark werden die Fahrkosten im öffentlichen Verkehr subventioniert. In den USA spendierte die Regierung 80 Milliarden Dollar, um GM und Chrysler zu retten. Davon blieben am Ende 10 Milliarden an den Steuerzahlenden hängen.
  • Das Flugbenzin ist weltweit steuerfrei: Es gibt weder Benzinsteuern wie bei den Autos noch wird eine Mehrwertsteuer erhoben. Das kommt hohen Subventionen gleich und verzerrt den Wettbewerb.
    Bei den UN-Klimaverhandlungen haben die Regierungen den Flugverkehr grosszügig ausgeklammert.
    Flugzeughersteller wie Boeing oder Airbus profitieren von Subventionen in Milliardenhöhe5. Flughäfen erhalten zinslose oder zinsgünstige Darlehen und Investitionshilfen.

Würden alle diese ungeheuerlichen, marktwidrigen Subventionen abgeschafft, wären die Transportkosten erheblich höher, so dass nicht mehr so viele Waren volkswirtschaftlich unsinnig auf der ganzen Erde hin- und hergeschoben und an falschen, fernen Standorten bearbeitet würden.6
Die nationalen Parlamente sind nicht in der Lage, diese Wettbewerbsverzerrungen zu beseitigen. Und an Konferenzen der OECD, der EU, G7 oder G20 sind diese systemwidrigen Subventionen und Sozialisierungen von verursachten Kosten meist nicht einmal traktandiert. Falls doch einmal, wie beispielsweise in der EU die Besteuerung von Konzernen wie Google oder Facebook, verhindert das institutionelle Erfordernis der Einstimmigkeit das notwendige Handeln. Die Institutionen versagen.

Ökologie am Beispiel des Insektensterbens: In den letzten dreissig Jahren ist die Zahl der Insekten auf einen Viertel geschrumpft. Dieser Insektozid kündet ein ökologisches Desaster an. Doch die Politik ist heute handlungsunfähig, wenn eine Katastrophe fernsehuntauglich ist. Zwar wären Massnahmen gegen den Insektozid eigentlich machbar:

  • Die Agrarsubventionen von strengen Umweltauflagen abhängig machen;
  • Neonicotinoide und Glyphosat verbieten;
  • Fleisch würde teurer, so dass pro Jahr vielleicht nur noch 25 Kilo pro Person und nicht mehr 51 Kilo wie heute gegessen wird. Das wäre für die öffentliche Gesundheit erst noch besser.

Doch offensichtlich sind die Mehrheitsparteien in unseren Parlamenten Geiseln der mächtigen Agrarlobby und damit unfähig, den Insektozid zu stoppen.
Diese Unfähigkeit, auch bezüglich der bereits angeführten Beispiele, ist ein offensichtliches Problem der heutigen demokratischen Institutionen, mit dem sich Parteien, Politiker und Medien prioritär befassen müssten. Sie tun nicht einmal das.

Die Freiheit der Medienschaffenden: Damit Bürgerinnen und Bürger in einer Demokratie ihre Vertreterinnen und Vertreter wählen oder sogar in Sachfragen mitentscheiden können, brauchen sie ein Minimum an Informationen von freien Medien. Deren Freiraum haben früher reichlich fliessende Werbeeinnahmen ermöglicht. Diese Geldquelle ist am Versiegen. Als Folge davon konzentriert sich die Medienmacht in immer wenigen Händen. Die Kontrolle übernehmen wirtschaftliche Grosskonzerne oder Milliardäre.
Diese greifen verbleibende öffentlich-rechtliche Medien mit ihrer geballten finanziellen Macht an. Mehr denn je bestimmt das Geld die Informationen. Was Konzernen oder Milliardären nicht passt, geht in den grossen Medien unter.
Die demokratischen Institutionen funktionieren heute so, dass sie offensichtlich nicht in der Lage sind, die Medienfreiheit auf eine andere Grundlage zu stellen.

Der militärisch-industrielle Komplex: Parteien und Medien berichten gerne häufig und detailliert über Probleme mit Muslimen in Europa wie etwa das Tragen von Burkas oder das Verweigern des Schwimmunterrichts. Zwanzig mal häufiger sollten Politiker und Medien jedoch über den ungleich grösseren Aufreger debattieren, dass Saudi-Arabien der mit Abstand grösste Finanzierer des Terrorismus im Ausland und der grösste Verbreiter des fundamentalistischen Salafismus ist.7 Und darüber, dass dieser Unterdrückungsstaat aufgerüstet wird von den Rüstungsindustrien der USA und Europas, und dass Investoren, Exporteure und Vermögensverwalter mit diesem reichen Land der Terroristen-Finanzierer glänzende Geschäfte machen. Sie stammen zu einem beachtlichen Teil aus den USA, aber auch aus Deutschland und der Schweiz. Sanktionen oder Verbote haben keine Chance.

Die Lobby des militärisch-industriellen Komplexes hat die nationalen Parlamente nicht nur bei den Geschäften mit Saudi-Arabien im Griff. In den Nato-Staaten erzielte der Komplex 2015 nach Angaben des «Stockholm International Peace Research Institute» sipri einen Umsatz von 861 Milliarden Dollar, die Waffenindustrie in Russland einen von 66 Milliarden. Wie andere Branchen will auch die Rüstungsindustrie weiter wachsen und von höheren Rüstungs- bzw. Verteidigungsbudgets profitieren. Dazu geeignet sind Feindbilder, die sie unter Politikern und Medienschaffenden mit Erfolg verbreitet: «Gute» werden von «Bösen» bedroht. Gegenüber dem mächtigen Desinformations-Apparat verhalten sich Parlamentarier und geschwächte Medien weitgehend wehrlos.

Die über 200’000 vermeidbaren Todesfälle in Spitälern: Eine Studie des OECD-Sekretariats bestätigte Anfang 2017, dass in OECD-Ländern jede zehnte Patientin und jeder zehnte Patient während eines Spitalaufenthalts gesundheitlich unnötig geschädigt wird8. «Unnötig» bedeutet, dass die Ursachen vermeidbar wären. Konkret wären bei guten Behandlungen jedes Jahr über 200’000 Todesfälle zu vermeiden, davon mindestens 20’000 in Deutschland und mindestens 2000 in der Schweiz.9
Überdies wären jährlich 5 bis 7 Millionen gesundheitliche Komplikationen zu vermeiden, die zusätzliche Behandlungen, längere Spitalaufenthalte oder sogar neue Spitalaufenthalte nötig machen. Das alles erhöht allerdings die Umsätze der Spitäler sowie der Hersteller von Medizinalprodukten und Arzneimitteln. Die Gesundheitsindustrie hat – ökonomisch – kein Interesse, die Behandlungsqualität zu verbessern.
Am schnellsten und unkompliziertesten lässt sich die Behandlungsqualität in Spitälern mit zwei Massnahmen verbessern:

  • die Verwechslungsgefahr von Medikamenten verringern10;
  • Bei verschiedenen Operationen höhere Mindestfallzahlen pro Spital und pro Chirurg vorschreiben.

Medikamente: Bei den Arzneimitteln fordern Verbraucherorganisationen schon lange zwei leicht durchführbare Massnahmen: Erstens auf den Verpackungen in grosser Schrift die enthaltenen Wirkstoffe anschreiben statt verwechselbare Markennamen. Zweitens Medikamente für die gleichen therapeutischen Anwendungen mit der gleichen Farbe versehen. Beides würde die Verwechslungsgefahr auch in Pflegeheimen verringern.
Doch solche Vorschriften lehnt die Pharmalobby ab. Ihr Einfluss in den Parlamenten ist derart gross, dass selbst diese einfachen Massnahmen zum Verhindern von zahlreichen Gesundheitsschäden keine Chance haben.
Mindestfallzahlen: Das Plausible wurde wissenschaftlich schon mehrfach belegt: Je häufiger sowohl ein Chirurg wie sein ganzes Spitalteam eine Operation durchführen, desto seltener kommt es statistisch zu vermeidbaren Komplikationen und Todesfällen. Bei heiklen Operationen sollten es im Minimum fünfzig pro Jahr sein. Das ist ein Eingriff pro Woche. Auch hier konnten sich die meisten Parlamente und Gesundheitsbehörden gegen die Lobbys der Krankenhäuser und der Chirurgen nicht durchsetzen.
Ein ungern gehörter Vergleich: Wenn es wegen Terroristen oder Massenmördern zu vergleichsweise wenigen Todesfällen und Verletzten kommt, stocken Parlamente die Polizeikräfte auf und schränken die Privatsphäre und die Persönlichkeitsrechte der Bürgerinnen und Bürger ein. Hier sind sie handlungsfähig, weil keine nennenswerte Lobby dagegen Widerstand macht. Anders bei der ungleich höheren Zahl von – vermeidbaren – Spitalopfern: Dort werden längst nötige Massnahmen nicht ergriffen.

Fazit: eine Demokratie-Müdigkeit

Ein verbreitetes Gefühl, dass Regierungen und Parlamente verschiedenen Herausforderungen nicht mehr gewachsen sind, trägt bei zu einer «Demokratie-Müdigkeit», die sich laut David van Reybrouck weltweit ausbreitet11. Wahlen seien zu einem akzeptierten Ritual verkommen, deren Form wichtiger geworden sei als der Inhalt. Denn die Gewählten würden verachtet. «Der Graben zwischen Regierungen und Bürgern wächst», stellte auch Daniel Kübler fest, Professor für Demokratieforschung an der Universität Zürich.
Zwei nationale Abstimmungen hatten besonders augenfällig blossgelegt, wie wenig der Volkswille wert ist. Im Jahr 2015 stimmten die Griechen mit einer Mehrheit von 63 Prozent gegen die von der EU und dem IWF vorgeschlagenen Sparmassnahmen und Reformen. 2016 stimmten die Holländerinnen und Holländer gegen den EU-Assoziierungsvertrag mit der Ukraine. Beide Abstimmungen wurden in den Wind geschlagen.
Wie einige andere Politikwissenschaftler plädiert Reybrouck für ein neues Wahl- und Abstimmungssystem. Eine Reform der demokratischen Institutionen müsste heute in Parlamenten, Regierungen und Medien eines der prioritären Diskussionsthemen sein.

Die «Corporatocracy» als Herausforderung
Kein Zweifel:

  • Die Verteilung der Kompetenzen und die Spielregeln der demokratischen Institutionen müssten den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen ständig angepasst werden.
  • Die persönlichen und politischen Rechte und Freiheiten der Bürger, die Mitsprachemöglichkeiten, die Medienfreiheit, die Unabhängigkeit von Parlamenten, Regierungen und von der Justiz sind nicht auf ewig garantiert, wenn sich die Machtverhältnisse innerhalb der Gesellschaften verändern.

Doch allzu häufig wird so getan, als seien die einmal etablierten Spielregeln sakrosankt.

Die Konzentration in der Real- und Finanzwirtschaft hat so stark zugenommen, dass sich die wirtschaftliche und damit auch die politische Macht immer mehr bei wenigen internationalen Grossunternehmen konzentriert. Ihre wichtigsten weltweiten Interessen können sie in nationalen Parlamenten und in Medien durchsetzen. In Westeuropa und in den USA ist die «Corporatocracy»12 für unsere Rechte und Freiheiten gefährlicher geworden als «der Staat».
In China diktiert die Partei, was läuft. Bei uns diktieren bei wesentlichen Fragen die internationalen Grosskonzerne. Sie finanzieren Wahlen und Abstimmungen, «Think Tanks», «Studien», Medien und ein ganzes Heer von Lobby-Organisationen, PR-Firmen und Anwaltskanzleien. All dies sowohl im In- wie im Ausland.
Die heutigen demokratischen Institutionen sind damit überfordert.

Einige Stimmen

In der Öffentlichkeit werden die Schwachstellen der heutigen parlamentarischen Demokratien nur selten deutlich artikuliert. Nikolaus von Bomhard, Konzernchef des Versicherungskonzerns Munich RE, stellte fest: «Generell ist die Politik bei vielen Problemen überfordert, wenn diese Probleme an der Landesgrenze nicht halt machen und über eine Legislaturperiode hinausreichen».13
Der deutsche Verleger Jakob Augstein räumte ein: «Wir haben das Gemeinwohl zu lange mit dem Wohl der Wirtschaft verwechselt. Die Selbstermächtigung der Politik steht in dieser Hinsicht noch aus».14
NZZ-Redaktor Helmut Stalder ortet in unserer Demokratie eine «Repräsentionslücke», weil besonders seit dem 20. Jahrhundert politische «Entscheide und ihre Auswirkungen über Generationen auseinanderklaffen».15 Als Beispiele kann man den Atommüll nennen, den künftige Generationen jahrtausendelang überwachen müssen, oder die masslose Überfischung und Verschmutzung der Meere, oder den gigantischen, abzutragenden Schuldenberg.
Der deutsche Spiegel-Journalist und Buchautor Georg Diez sowie auch Emanuel Heisenberg von der «Stiftung neue Verantwortung»16 sind der Meinung, man sollte bei uns heute nicht mehr von «Demokratie» reden, sondern von (Finanz-)«Oligarchie».

———————

  • Es folgt ein zweiter Teil über eine konkrete Exit-Strategie, auch mit einigen neuen demokratischen Spielregeln, die wahrscheinlich erst nach der nächsten grossen Finanz- und Wirtschaftskrise eine Chance haben.
    Teil 2: Überforderte Demokratie: Was zu tun wäre

———————
1 http://policy-practice.oxfam.org.uk/publications/ending-the-era-of-tax-havens-why-the-uk-government-must-lead-the-way-601121 (Download English paper)
2 Quelle: Institute for International Finance http://www.handelsblatt.com/politik/konjunktur/nachrichten/weltwirtschaft-globaler-schuldenberg-waechst-auf-215-billionen-dollar/19610836.html
3 Prof. Marc Chesney auf Infosperber.ch: https://www.infosperber.ch/Artikel/Wirtschaft/Grossbanken-Die-Finanzindustrie-hat-die-Politik-im-Griff
4 https://www.welt.de/wirtschaft/article134696005/Acht-Prozent-des-Welt-Vermoegens-in-Steueroasen.html
5https://www.bafu.admin.ch/bafu/de/home/themen/laerm/mitteilungen.msg-id-53527.html
6 https://www.infosperber.ch/Artikel/Umwelt/NZZ-Verrirrung-uber-verzerrten-Wettbewerb
7 Übersicht im Buch von Fabian Scheidler «Chaos – das neue Zeitalter der Revolutionen»: https://www.amazon.de/Chaos-Das-neue-Zeitalter-Revolutionen/dp/3853714269
8 OECD (2017), «Tackling Wasteful Spending on Health». http://www.keepeek.com/Digital-Asset-Management/oecd/social-issues-migration-health/tackling-wasteful-spending-on-health_9789264266414-en#.WHZrSmV0z_U#page4
9 Dossier auf Infosperber: https://www.infosperber.ch/index.cfm?go=Dossier/Vermeidbare-Arztfehler
10 «Fast die Hälfte aller Fehlermeldungen in den Spitälern betreffen Medikamente»: Infosperber vom 27.12.2016. https://www.infosperber.ch/Artikel/Gesundheit/Arzte-Das-grosste-Risiko-in-den-Spitalern-Medikamente
11 David van Reybrouck: «Gegen Wahlen – und warum Abstimmen nicht demokratisch ist», Wallstein-Verlag, Göttingen 2016. https://www.amazon.de/Gegen-Wahlen-Warum-Abstimmen-demokratisch/dp/3835318713
12 https://en.wikipedia.org/wiki/Corporatocracy
13 Interview in der Neuen Zürcher Zeitung vom 19.11.2016
14 Interview im Tages-Anzeiger vom 19.4.2017
15 in Neue Zürcher Zeitung vom 6.4.2017: «Wie die Demokratie enkeltauglich wird»
16 https://www.stiftung-nv.de/de/person/emanuel-heisenberg

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessen (-bindung) der Autorin/des Autors

Keine.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

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Des Sperbers Überblick

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Die Demokratien im Stress

Die Finanz- und Politkrisen setzen den Demokratien im Westen arg zu. Auch mit der Gewaltenteilung haperts.

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13 Meinungen

  • am 24.11.2017 um 12:07 Uhr
    Permalink

    Danke, Urs P. Gasche für das leicht verständliche und detallierte Krankeitsbulletin unserer Gesellschaft! Habe soeben wieder eine Spende für Ihre Organisation gemacht. Ich bin gespannt auf den zweiten Teil Ihrer Analyse (die Therapievorschläge) und hoffe, dass da auch etwas Revolutionäres dabei ist.

  • am 24.11.2017 um 12:10 Uhr
    Permalink

    Eine so geraffte und fundierte Analyse unserer heutigen, weltweiten Probleme habe ich noch nie gelesen. Herzlichen Dank. Ich teile die Auffassung von Diez und Heisenberg, dass wir heute in einer feudalistischen Oligarchie leben, wie im Mittelalter. Neu ist diese Gesellschaftsform jedoch global und nicht mehr auf einzelne Staaten bezogen. Gespannt warte ich auf die Exit-Strategie im zweiten Teil des Artikels.
    Victor Ruch

  • am 24.11.2017 um 12:28 Uhr
    Permalink

    Traurig aber wahr. Ich bin ja sehr gespannt auf die die angekündigten Lösungsansätze.

    Meinerseits denke ich, besteht international nur noch Hoffnung, wenn die nachhaltigen Entwicklungsziele 2030 der UNO konsequent in Angriff und umgesetzt werden.

    National sollen sich unsere PolitikerInnen verdammt noch mal vor jedem Entscheid und jeder Aussage nochmals die Präambel unserer Bundesverfassung durch den Kopf gehen lassen:

    Das Schweizervolk und die Kantone,

    in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung,

    im Bestreben, den Bund zu erneuern, um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken,

    im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben,

    im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften und der Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen,

    gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen,

    geben sich folgende Verfassung…

  • am 24.11.2017 um 12:50 Uhr
    Permalink

    Besten Dank für diese umfassende Auflistung und Beschreibung der
    komplexen, sich überschneidenden Problemfelder.
    Die Frage drängt sich auf, welche Lösungen überhaupt noch auf der Ebene von n.b. unterschiedlich verfassten Nationalstaaten angegangen werden können.
    Jedoch, welche demokratischen Instrumente und Verfahren stehen hierbei
    zur Verfügung bzw. müssen erst noch gefunden werden ?
    (s. van Reybrouck oder Ulrike Guérot: Warum Europa eine Republik
    werden muss! Eine politische Utopie).

  • am 24.11.2017 um 13:27 Uhr
    Permalink

    Wir leiden nicht an zuviel, sondern an zu wenig Demokratie. Solange Parteien und Parlamente und Regierungen über die Köpfe der Völker hinweg Kriege erklären, Steuermilliarden verschleudern und auf Kosten der Bevölkerung grenzenlose Einwanderung ermöglichen, können wir nicht von einer Volksherrschaft sprechen. Die Jahrhundertprobleme sind von der Oligarchie losgetreten worden. Wenn die Medien statt den Meinungspluralismus zu fördern, nur noch Regierungsverlautbarungen nachbeten und Kriegspropaganda verbreiten, wird die Demokratie mit Füssen getreten. Wenn im Namen der Demokratie Recht gebrochen und Kriege vom Zaun gelassen werden, verkommt die vielbeschworene Demokratie zu einer Fassadendemokratie.

  • am 24.11.2017 um 17:10 Uhr
    Permalink

    "Ein drohender Finanzkollaps: Offensichtlich überfordert sind die Demokratien auch damit, das internationale Finanzsystem so zu regulieren, dass das Risiko eines folgenschweren Crashs auf ein Minimum reduziert wird.» Demokratie gibt’s gar nicht und hat’s noch nie gegeben. Geld regiert die Welt. Alles Geld der Nationalbank geht und ging schon immer ausschliesslich zu den Banken, welche via Zins und Zinseszins Billionen erwirtschafteten. Das Volk bezahlt die auf die Produkte geschlagenen Bankzinsen und unverschämten Unternehmergewinne. Die Geldherren können spielend eine Mehrheit im Parlament organisieren und die hat nicht das geringste Interesse, den Goldesel abzuschaffen…

  • am 24.11.2017 um 18:27 Uhr
    Permalink

    Welche Länder sollen die westlichen Demokratien sein ?
    Demokratie bedeutet dem volk gewidmet.
    Die Chicago Boys «testeten» in den 70er Jahren das neoliberale System in Chile und Argentinien. Ziel war es das eine kleine Oberschicht immer reicher wird.
    In den 80er Jahren wurde die Plutokratie ( dem Geld gewidmet ), durch die Reagan Regierung in den USA eingeführt. Wenig später folgten Großbritannien.
    Deutschland folgte 2004.
    Mehr oder weniger gesamt Europa hat die Plutokratie eingeführt.

    Die Schweiz ist da eine Ausnahme.
    Während in Deutschland die Regierung über die Köpfe der Einwohner hinweg und entgegen die Parteibasis, Politik betreiben, gibt es in der Schweiz Volksabstimmungen, die ein Regieren am Volk vorbei zumindestens stark einschränken.

    siehe auch
    https://www.youtube.com/watch?v=25s4acHP0aM

    "Die USA ist eine Oligarchie, mit grenzenloser Bestechlichkeit"

    Hintergründe zum neoliberalen System, im Interview mit Professor Mausfeld bei Ken Jebsen.

    https://www.youtube.com/watch?v=OwRNpeWj5Cs

  • am 24.11.2017 um 19:19 Uhr
    Permalink

    Herr Gabriel, das ist doch eine leere Behauptung ohne jeden Beweis. Sie glauben im Ernst, dass der globalisierte Kapitalismus ein Land ausspart, in dem das Volk das Sagen hat? Im Gegenteil, das Voräuschen einer Volkssouveränität ist in der Schweiz noch raffinierter und hinterhältiger als anderswo, weil unsere Pseudodemokratie ja angeblich eine «direkte» sein soll. Da ist eine Parteidiktatur irgendwie ehrlich. Der Marktwirtschaft ist das nämlich egal, unter welchem Regime die Ausbeutung von Mensch und Erde stattfindet.

  • am 24.11.2017 um 21:09 Uhr
    Permalink

    Ich würde gerne wieder einmal über die Einführung der Sommerzeit abstimmen. (;-))

  • am 25.11.2017 um 06:40 Uhr
    Permalink

    Guten Morgen, gute Analyse, besten Dank. Aber was tun? Würde ja gerne wieder mal einen glaubwürdigen , dem Gemeinwohl verpflichteten Politiker (in) wählen dürfen. Aber die werden immer rarer und Lobbyisten dominieren. Zum Beispiel: was drücken sich doch die Parteien um die Offenlegung der Spendengelder, mit Argumenten, die einem Demokraten die Haare zu Berge stehen lassen……. Komme zum Schluss: die Wahlen abschaffen und die Geschicke einem zufällig gewählten Gremium anzuvertrauen wäre mal ein Revisionsansatz. Schlechter kann es ja kaum noch werden.

  • am 25.11.2017 um 09:57 Uhr
    Permalink

    Immer wenn die demokratische Mitbestimmung zu Resultaten führt, welche der Elite nicht passen, wird nach neuen Regeln gerufen.

  • am 25.11.2017 um 12:43 Uhr
    Permalink

    Wahlen bei uns sind dazu da, zu verhindern, dass sich etwas Wesentliches ändert. Dabei wären viele Veränderungen nötig: 1. Kein Privatbesitz mehr an nicht selbst genutzten Immobilien. 2. Finanzsysteme in öffentliche Hand überführen, demokratisch kontrollieren. 3. Ebenso alle Bodenschätze. Die Welt in privater Hand, ist das nicht obszön? 4. Staatliche Einheitskasse für Alter und Krankheitsvorsorge. 5. Hohe Steuern auf Kapitalerträgen. 6. Geldmonopol für den Staat. 7. Ausbau des öffentlichen Verkehrs auf Kosten des mIV. 8. Evtl. bedingungsloses Grundeinkommen für den Übergang……usw. usw.

  • am 25.11.2017 um 15:25 Uhr
    Permalink

    Herr Jud, ich glaube nicht, ich sehe mir die Fakten an.

    Die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland ist offiziell halb so hoch wie in der 90ziger Jahren. Die Zahl derjenigen die von staatlichen Hilfen leben, ist aber zweieinhalb mal so hoch wie in den 90er Jahren ( Quelle u.a. Focus Online ). Wobei nachweisbar 5 Millionen ! Personen auf Hartz4 verzichten, da die Prozedur so menschenentwürdigend gestaltet ist.

    Was ist geschehen ?
    Es wurde massiver Druck, durch die EU Abeitnehmerfreizügigkeit und weitgehende Zerschlagung der Flächentarifverträge, aufgebaut. Millionen Personen aus Osteuropa sind auf den westliche Arbeitsmarkt geströmt und sind aufgrund der Notlage bereit auch für 60 – 80 % weniger Lohn und Gehalt zu arbeiten. Alleine 5 Millionen aus Polen arbeiten ständig im Ausland, mindestens genauso viele zeitweise.
    Die Löhne und Gehälter stürzten ab, die Mieten explodieren flächendeckend, nicht nur in den Ballungsräume, die Sozialsysteme kollabieren, die Infrastruktur zerfällt ( siehe A20 versinkt im Moor ), staatliche Projekte dümpeln vor sich hin ( siehe Berliner Flughafen ) , die Verschuldungsraten explodieren, faule Kredite häufen sich an, für Lehrer, Ärzte und Polizei fehlt das Geld.

    Genau das verhinderte die Schweiz, durch strikte Gesetze.
    Mal sehen ob die Schweiz sich halten kann oder ob in einigen Jahren auch EU Verhältnisse, wie in Deutschland herrschen ?

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