Kommentar

Sprachlust: Sprachdogmatisch, wenn es nötig ist

Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Daniel Goldstein /  Dem Wort «scheinbar» sei zu misstrauen, warnt der Heuer, denn oft sei «anscheinend» gemeint. So ruft Nonchalance nach Misstrauen.

«Sprachdogmatisch» sei es, auf dem Unterschied zwischen «anscheinend» und «scheinbar» zu beharren, schreibt mir jemand. Genau das habe ich in meiner letzten Kolumne getan. Würde ich jetzt getadelt, es sei ja nicht die letzte gewesen, weil wieder eine komme – dann fände ich das auch übertrieben sprachdogmatisch, weil aus dem Zusammenhang sofort klar wird, dass «letzte» hier «vorangegangene» bedeutet. Wenn aber bei «scheinbar» nicht mehr klar ist, dass es um einen trügerischen Schein geht, dann hat die Sprache eine sinnvolle Unterscheidung verloren. In der Tat hält Heuer («Richtiges Deutsch») fest, die Verwechslung mit «anscheinend» (allem Anschein nach, wahrscheinlich) sei so häufig geworden, «dass wir dem Wort scheinbar heute mit Misstrauen begegnen müssen».
Wenn es dogmatisch ist, der Beliebigkeit bei der Wortwahl die gut etablierten Bedeutungen entgegenzuhalten, dann bin ich gern dogmatisch. Sprachwandel findet statt, aber man braucht ihn nicht der Gleichgültigkeit und dem Unwissen zu überlassen. Es gibt zwischen ähnlich lautenden Wörtern eine ganze Reihe sinnvoller Unterscheidungen, die aufzugeben ein Verlust wäre. Und es stünde ihm keinerlei Gewinn an sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten gegenüber. Beispiele gefällig?
Launischer Bundesrat
«Der wegen seiner ungewollt launischen Ansprachen berühmte Johann Schneider-Ammann» ist jüngst in einer Sonntagskolumne aufgetaucht. Mag sein, dass auch dieser Bundesrat seine Launen hat, aber dass er sie – mit oder ohne Absicht – in seinen Ansprachen durchscheinen lässt, wäre mir neu. Vermutlich hat der Autor nicht launische, also launenhafte Ansprachen gemeint, sondern launige, also locker-humorvolle, die es hier ungewollt sind. Wenigstens «ungewollt» ist treffend. Wer hingegen von «unfreiwilligem Humor» redet, hält sich zwar an eine feste Wendung, suggeriert aber, der Humor sei unter Zwang abgesondert worden. Doch darum geht es nicht.
Der Bundesrat scheint Wortverwechslungen anzuziehen. «Die BDP verliert ihre Bundesrätin mitunter deshalb, weil das Trauma der UBS-Rettung die Öffentlichkeit kaum mehr beschäftigt», schrieb ein anderer Kolumnist. «Mitunter» bedeutet «zuweilen»; die BDP könnte sich glücklich schätzen, verlöre sie ab und zu eine Bundesrätin: Dann hätte sie auch ab und zu eine. Dass das nicht gemeint war, sieht man sogleich, und dann bleibt nur noch die Deutung, der Autor habe «unter anderem» gemeint. Er ist damit nicht allein. Manche meinen auch «mithin», also «somit», wenn sie «mitunter» sagen.
Streitbarer Weg
Da fahre ich also Kolumnistenkollegen an den Karren. Bin ich mithin streitbar? Mag sein, dann aber wenigstens für eine gute Sache, die sprachliche Klarheit eben. Die geht mitunter auch beim Wort «streitbar» verloren. «In der Kunstchronik dieses Jahres gesellt sich zum streitbaren Thema des Hafenkrans ein neues ungebührliches Experiment.» Streitbar, also kampflustig, war das Thema kaum; ebenso wenig überzeugt es, wenn Sozialdienste «in den streitbaren Fällen Abklärungen treffen». Gemeint war beide Male «strittig», also «umstritten». In heutigen Wörterbüchern sind die Bedeutungen in unstrittiger Weise zugeordnet. Was aber, wenn Gotthelf von «streitbaren Wegen» in der Vehfreude schreibt?
Das Idiotikon, das Schweizerdeutsche Wörterbuch, kennt für «strîtbar» die Bedeutung «mühsam, steil», besonders beim Gelände. Es hält auch für «schînbar» Überraschungen bereit. Als erste Bedeutung gibt es «glänzend, hervorragend» an, also das Gegenteil von «unscheinbar». Und dann, zweitens, dies: «sichtbar, augenscheinlich, offenkundig»! Nur in der dritten Bedeutung und ganz leise klingt schliesslich Zweifel an: «glaublich, dem Scheine, dem Äusseren nach» – ohne die Einschränkung «nur». Es hat also Wurzeln in der Mundart, «scheinbar» zu sagen, wenn man «anscheinend» meint. Aber das ist noch kein Grund, den Unterschied im Hochdeutschen zu verwischen.
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlust»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor ist Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel» und schreibt für die Zeitung «Der Bund» die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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2 Meinungen

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 22.02.2016 um 17:29 Uhr
    Permalink

    Nach längerer Lesepause bei Infosperber sehe ich: die Beiträge von Daniel Goldstein sind nach wie vor von wesentlicher Substanz, sie verlieren auch nicht davon, wenn man sie ein paar Monate oder ein paar Jahre später wieder liest. Andererseits erschrecke ich gelegentlich über die Geschwätzigkeit der Diskussionen in diesem Forum, wobei ich bei nachträglicher Einsichtnahme zumal auch mich selber nicht von dieser Kritik ausnehmen kann. Das Besinnen, die Sprache betreffend, ist aus meiner Sicht auch eine geistig-ethische Leistung.

  • am 22.02.2016 um 19:33 Uhr
    Permalink

    Vielen Dank für Ihren Beitrag.
    In der Diskussion über scheinbar vs. anscheinend fällt auf, dass in allen anderen Fällen eines vorangestellten ’schein› jede.r sofort die Vorgeblichkeit akzeptiert: Scheingeschäft, scheinheilig etc. Es wäre tatsächlich unangemessen, eine sprachliche Differenzierungsmöglichkeit preiszugeben. Ähnlich wie bei zeitgleich vs. gleichzeitig, die mehr und mehr synonym verwendet werden. Ich habe in meinem Blog ein paar Worte dazu geschrieben:
    http://frank-hurlemann.blogspot.de/2016/02/sprache-wie-war-das-noch.html

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