Kommentar

Sprachlust: Wie gross darf ein Quantensprung sein?

Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Daniel Goldstein /  Fachwörter zahlen einen Preis, wenn sie Allgemeingut werden: Sie verlieren oft ihren präzisen Sinn, was Fachleute zuweilen ärgert.

Ein Leser schreibt: «Immer wieder werden wirkliche oder angebliche Fortschritte auf irgendeinem beliebigen Gebiet als ‹Quantensprung› bezeichnet. Richtig verwendet, steht dieser Begriff jedoch im Zusammenhang mit einer Distanz von wenigen Picometern, also Billionsteln von Metern: Man spricht von einem Quantensprung, wenn ein Elektron eines Atoms seinen Ort plötzlich von der einen auf eine benachbarte Umlaufbahn um seinen Atomkern verlegt und dabei ein Energiequant aussendet oder verschluckt.»
Ist demnach etwa folgende Behauptung falsch?: «Der Gotthard-Basistunnel ist bahntechnisch ein Quantensprung.» Der Baselstädter Regierungsrat Hans-Peter Wessels, der dies als Präsident des Gotthardkomitees sagte, meinte ja nicht, da bewege sich die Bahntechnik nur um Picometer. Sondern er brauchte das Wort so, wie es der Duden für nichtphysikalische Verwendung definiert: «Fortschritt, der eine Entwicklung innerhalb kürzester Zeit ein sehr grosses Stück voranbringt». Man darf sich die Übertragung aus der Physik so vorstellen: Was für den Betrachter ein winziger Schritt eines Elektrons ist, bedeutet für das Elektron selber eine existenzielle Veränderung. Ein Betrachter aus dem Weltall würde die Neat, wenn überhaupt, als minimale Verschiebung wahrnehmen, und doch ist sie ein Quantensprung.
Nur aus Fachsicht falsch
Fachausdrücke nehmen, wenn sie in den allgemeinen Sprachgebrauch übergehen, nicht selten eine Bedeutung an, die Fachkundige falsch finden. Der genannte Leser schreibt weiter: «Ebenfalls immer wieder zu lesen ist, es seien einer Katastrophe wegen Personen ‹evakuiert› worden. Das Problem ist nur: Personen können nicht evakuiert werden, denn ‹evakuieren› heisst ‹leer räumen›.» Vom ursprünglichen Wortsinn her stimmt das, nur kann sich das «Heissen» eben ändern: Wenn es nicht ums Herstellen eines Vakuums geht, nennt der Duden als erste Bedeutung: «wegen drohender Gefahr wegbringen». Und er dreht den Begriff gar im Kreis: etwa auf ein Gebiet bezogen, bedeute evakuieren «durch Evakuieren räumen».
Nun braucht man natürlich nicht alle Kapriolen des Sprachgebrauchs mitzumachen, auch wenn sie den Segen des Dudens haben. Nur hat man in diesem Fall einen schweren Stand, wenn man sie als falsch bekämpfen will. Einige weitere Beispiele: Die Olympiade war sehr wohl in der Antike der Zeitraum von den einen Spielen bis zu den nächsten; heute bezeichnet man damit in erster Linie die Spiele selber. Um beim Sport zu bleiben: Im Boxen wirft der Coach das Handtuch dem Boxer zu, um diesen aus dem Kampf zu nehmen. Überall sonst wirft man selber das Handtuch, wenn man etwas aufgibt – eigentlich ein seltsames Bild, denn die einzige Tätigkeit, auf die es passt, ist das Abtrocknen.
Durchstarter dezimieren?
Wenn ein Flugzeug durchstartet, dann deshalb, weil das Landemanöver zu misslingen droht. Ausserhalb der Fliegerei aber wird das Wort meistens nicht dann verwendet, wenn jemand sich anschickt, einen Fehler auszubügeln. Vielmehr geht es um einen schwungvollen Neubeginn: «Wo andere Pläne für den Ruhestand entwerfen, will er nochmals durchstarten», war etwa über den Stadtberner Ex- und Neo-Politiker Peter Sigerist zu lesen. Er braucht sich deshalb nicht als Beinahe-Bruchpilot verunglimpft zu fühlen.
Und wenn nun jemand versucht sein sollte, derartige «Missbräuche» von Fachausdrücken zu dezimieren, dann begibt er sich auf gefährliches Gelände: Während wir «dezimieren» heute für eine drastische Verringerung verwenden, bedeutet es ursprünglich nicht etwa die Reduktion auf einen Zehntel, sondern nur um einen Zehntel. Dies allerdings auf besonders drastische Art, wie der Duden über die Herkunft des Wortes berichtet: «lateinisch decimare = jeden zehnten Mann (mit dem Tode) bestrafen». Das konnte einer unbotmässigen Militäreinheit widerfahren; die schreibende Zunft wollen wir davor verschonen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel»; Verfasser der Kolumne «Sprachlupe», alle 14 Tage in der Zeitung «Der Bund».

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.