Kommentar

Sprachlust: Deutsch – Wer hat’s erfunden?

Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Daniel Goldstein /  Was ist am Deutsch deutsch? Wer nach dem Wesen einer Sprache fragt, landet oft beim Nationalismus. Buchautor Maas meidet die Falle.

«Was ist deutsch?» Trägt ein Buch diesen Titel, so stutzt man, wenn der Untertitel so lautet: «Die Entwicklung der sprachlichen Verhältnisse in Deutschland». Beansprucht der Verfasser Utz Maas für sein Land die alleinige Deutungshoheit in Sachen deutsche Sprache? Doch eine solche nationalistische Lesart liefe der Absicht des Buchautors diametral entgegen: Von einer angeblich auf die Germanen zurückzuführenden, quasi biologisch begründeten Wesenseinheit von Nation und Sprache hält er gar nichts, und er bezieht Österreich und die Schweiz durchaus in seine Überlegungen ein, ohne den Nachbarn eine deutsche Leitkultur (oder Schlimmeres) nahezulegen.
Einen Bezug zwischen Sprache und Nation stellt Maas dennoch her; er fasst ihn mit einer Entlehnung aus der Psychoanalyse: Imago. Darunter versteht er eine das Handeln leitende Idealvorstellung, und in ihr wird «das gesellschaftliche Projekt sichtbar, zu dem die Nationalsprache gehört. Dieses Projekt wurde in einer jahrhundertelangen Spracharbeit umgesetzt.» Die heutige deutsche Schriftsprache als Resultat dieser Arbeit ist das Kernthema des Buchs; sie ist etwas Gemachtes, nicht etwas naturgesetzlich Gewachsenes. Vielleicht deshalb schreibt der Autor «deutsch» im Buchtitel klein; ist allerdings die Sprache und nicht die Eigenschaft gemeint, so müsste «Deutsch» stehen, und so führt denn auch die Deutsche Nationalbibliografie den Titel.
Geschichte rückwärts gelesen
Das Buch ist aus langjähriger Lehrtätigkeit an der Universität Osnabrück hervorgegangen und letztes Jahr im Münchner Fink-Verlag erschienen (532 Seiten, Fr. 121.-). Es bedient sich eines klugen Kniffs, um die bewusste Sprachbildung sichtbar zu machen: Es geht die Geschichte rückwärts an, von der Gegenwart her. Schicht um Schicht wird freigelegt, wie der «Sprachausbau» abgelaufen ist. Vom Allgemeinen führt jedes Kapitel ins Besondere, das an ausgewählten Beispielen – viele aus dem niederdeutschen Umfeld Osnabrücks – akribisch beleuchtet wird. Diese Abschnitte setzen oft linguistische Fachkenntnisse voraus; der Autor weist darauf hin, man könne sie auch überschlagen.
Allerdings pflegt er auch in den allgemeinen Teilen oft eine schwierige Sprache; so nennt er die Tendenz, statt besuchen «einen Besuch machen» zu sagen, ein «periphrastisches Muster, das die Finitheitsmarkierung vom lexikalischen Verb analytisch trennt». Mit einer Reihe von derartigen Mustern charakterisiert Maas das heutige Hochdeutsch in Bezug auf Laute, Wortbildung, Satzbau, Wortschatz und Rechtschreibung.
Die Kraft der Anpassung
Die Hochsprache schöpft nicht nur aus verschiedenen Registern wie der familiären und der informell öffentlichen Sprache, beide in dialektaler Vielfalt; sie schöpft auch aus Sprachen von Minderheiten und Nachbarn – sowie aus jenen Eingewanderter. Diese Vorgänge erschliessen für den Autor die Quintessenz: «Die Antwort auf die Frage ‹Was ist deutsch?› ist in den Bedingungen für den Umbau der ererbten Strukturen zu suchen, nicht in diesen», und damit auch nicht in der Etymologie (Wortherkunft).
Diese Unterscheidung hat ihre Bedeutung auch für die Sprachpolitik, um die es dem Verfasser nicht nur nebenbei geht: Die «Herausbildung der modernen Gesellschaft zeigt das, was sie zusammenhält: die Einbindung aller in das gesellschaftliche Projekt, zu dem eben auch die Verkehrssprache Deutsch gehört. Einwanderer in diese Gesellschaft wollen in der Regel, in jedem Falle müssen sie Zugang dazu erhalten.» Das hat für Maas aber nichts mit «der Konstruktion einer Leitkultur» zu tun, die er für ein Instrument der Ausgrenzung hält. Man könnte die einheimische Kultur aber, besonders wenn man ihr Entstehen ebenfalls «gegen den Strich» analysiert, auch als Wegmarke der Einbindung sehen. Denn nicht nur die «Verkehrssprache», sondern auch kulturelle «Verkehrsregeln» muss kennen, wer sich in einer Gesellschaft einleben will.
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlust»

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor ist Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel» und schreibt für die Zeitung «Der Bund» die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch

Zum Infosperber-Dossier:

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Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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